Fred Ritzel (Oldenburg)

"Was ist aus uns geworden? - Ein Häufchen Sand am Meer ......."

Deutsche Nachkriegsgefühle an Beispielen aus der populären Musik

Kurt Tucholsky sagt 1923 von einem alten Karnevalsschlager, daß er den "vollendetsten Ausdruck der Volksseele enthält, den man sich denken kann", daß er "so recht zeigt, in welcher Zeit wir leben, wie diese Zeit beschaffen ist, und wie wir uns zu ihr zu stellen haben". Begründen läßt sich diese Eigenschaft populärer Schlager - in Anlehnung an Kracauers Thesen über die Wirkungen des Films - sowohl aus dem kollektiven Charakter der Produktionsvorgänge wie auch aus ihrem Warencharakter [Kurt Tucholsky: Alte Schlager, in: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke, Band 3 1921-1924,  Reinbek1975, S.187; Siegfried Kracauer: Von Cailgari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt 1979, S.11.].

Letzteres korrigiert sozusagen permanent wie in einer Rückkopplungsschleife das erstere: Nur was wirklich überzeugend auf latente oder offene Bedürfnislagen des Publikums trifft, wird erfolgreich aufgenommen. Und wenn das Alltagsherz der Massen mit nationalen Gefühlsrhythmen liebäugelt, dann wird auch der Schlager zum Medium nationaler Ausdrucksbedürfnisse, dann geraten auch Fragen der nationalen, der politischen Identität in den alltäglichen Gefühlsstoffwechsel musikalischer Unterhaltung.

Adorno meint, daß die Behauptung des Schlagers, eine wirksame Unterhaltungstherapie darzustellen, allenfalls deren Schein suggeriere, der "im tatsächlichen psychischen Haushalt für das eintritt, was dem Hörenden real versagt ist" [Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt 1962, S.38.]. Damit unterschlägt er allerdings die Bedeutung, die der Schlagerkommunikation aus dem Lebenszusammenhang des Rezipienten zuwächst und aus dem heraus die Einbindung in den Kreislauf der Kulturindustrie durchaus widerständig geraten kann.

Je nach soziopolitischem Kontext wird die Grenze, an die der Schlager bei der öffentlichen Widerspiegelung von Gefühlsinnereien gerät, verschoben: Grundsätzlich wird er dabei wohl niemals kritischer, als es der Zustand der Gesellschaft erlaubt, in der er kollektiv produziert wird. Als genuines Produkt dieser Gesellschaft stellt er sich niemals in Frage. Aber er besitzt einen prinzipiellen Drang nach Wahrheit, selbst in seiner ärgsten Verlogenheit. Er muß nämlich gemocht werden, er muß befriedigen. Dabei sind die zu befriedigenden Bedürfnisse keineswegs immer nur als lediglich kulturindustriell erzeugte, als scheinhafte zu verstehen.

Aber selbst als Surrogat hat der Schlager authentische Qualität. Das Surrogat läßt sich nämlich auch nicht durch die Wirklichkeit ersetzen, der Wunschtraum, das "parallele Leben", scheint existentiell notwendig.

Hier soll an einigen Beispielen gezeigt werden, wie im verräterischen Stoff der Schlager verborgene Gefühle der Nachkriegsdeutschen zum Ausdruck kommen, wie sich in scheinbar harmloser Gestalt lustiger Musik Abgründe von Ignoranz und Unverständnis auftun. Aber auch offenbar unumgängliche Gefühle des Selbstschutzes, des psychischen Überlebens im Hinblick auf die Verarbeitung von Nazizeit und Krieg.

Noch Jahrzehnte wird in der BRD das Kriegsende nicht als Befreiung wahrgenommen und gefeiert, sondern als Katastrophe. Obwohl sicherlich für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zuhause sinnlich nachdrücklich zu erfahren war, daß es plötzlich keine nächtlichen Bombenangriffe gab, keine Hetze zum Bunker, keine Angst vor einstürzenden Häusern, vor Feuer und Tod. Plötzlich sah sich die "Herrenrasse" zutiefst gedemütigt und den Siegern ausgeliefert.

Deutlich machte sich damals ein Solidarisierungseffekt zwischen den fast unterschiedslos betroffenen kleinen und großen Nazis bemerkbar, denen die übrige Bevölkerung zunehmend mit Mitleid begegnete. Insgesamt, konstatierte der Philosoph Karl Jaspers nach dem Krieg, entstand eine Stimmung, "als ob man nach so furchtbarem Leid gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet werden müßte, aber nicht noch mit Schuld beladen werden dürfte." Von Schuldbewußtsein war bald nicht mehr viel zu spüren. In einer Ende 1945 in der amerikanischen Zone durchgeführten Umfrage hielten 50 Prozent der Befragten den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Nur 20 Prozent akzeptierten die deutsche Schuld am Krieg, während 70 Prozent jede Verantwortung dafür ablehnten [Der Spiegel 1/1997].

Nach der Katastrophe: Tröstungen

Musikalische Medizin für die geplagten Deutschen gab es in recht eindrucksvoller Fülle, da gerade die sanften Propagandasongs, die "Durchhalteschlager" der Kriegszeit noch immer wirksam waren, immer weiter gespielt wurden (teilweise bis heute im kollektiven Gedächtnis gegenwärtig) und ihre warmen Fluchträume auch im Nachkriegsdeutschland bereitstellten: "Es geht alles vorüber" [Musik/Text: Raymond/Wallner/Feltz 1942], "Davon geht die Welt nicht unter" [Musik/Text: Jary/Balz 1942; vgl. Fred Ritzel/ Jens Thiele: Politische Botschaft und Unterhaltung - die Realität im NS-Film: DIE GROSSE LIEBE (1942), in: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.): Fischer Filmgeschichte Band 2: Der Film als gesellschaftliche Kraft 1925-1944, Frankfurt 1991, S. 310-323.], "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen" [Musik/Text: Jary/Balz 1942], "Mach dir nichts daraus"[Musik/Text: Grothe/Dehmel 1943], "Kauf dir einen bunten Luftballon"[Musik/Text: Profes/von Pinelli 1943], "Gute Nacht, Mutter"[Musik/Text: Bochmann/Lehnow 1938; vgl. dazu Fred Ritzel: Tod - ein Thema des Schlagers?, in: Mechthild von Schoenebeck u.a. (Hg.): Politik und gesellschaftlicher Wertewandel im Spiegel populärer Musik, Essen 1992, pp.87-101] und viele andere. Auch in der neuen Situation konnten sie ihre Wirkung entfalten, trösteten die Bedrückten, die Niedergeschlagenen. Aber es gab auch neue Lieder. Zu einem recht großen Erfolg entwickelte sich der Schlager "Nach Regen scheint Sonne"[Musik/Text: Beul/von Pinelli, 1946; lt. Bardong/Demmler/Pfarr: Lexokib des deutschen Schlagers, Ludwigsburg 1992,S. 362: "Schlager des Jahres" 1946], dessen Botschaft vom Wechsel der Lebenslagen auch einen zaghaften Versuch von Freude darüber zum Ausdruck bringt, daß der Krieg mit seinen Schrecken vorbei ist. Zweifellos bezieht sich die Metapher vom Wetter auf die Lage in Deutschland: "Solange wie die Welt sich dreht! Nach´m Regen scheint Sonne, nach´m Weinen wird g´lacht". In seiner vagen Botschaft zeigt sich der bei vielen erfolgreichen Schlagern charakteristische multifunktionale Ansatz: Auf unzählige Alltagssituationen paßt der Refrain, auf ganz individuelle Probemlagen kann er mit seiner Trostbotschaft reagieren, nach jeder Katastrophe kommt die Besserung. Und die Katastrophen, die sich durch Krieg und Nachkriegszeit entwickelt hatten, häuften sich in diese Zeiten gerade in unzähligen privaten Schicksalen, in jeder Familie, an jedem Ort in Deutschland.

"Swing-Polka" nennt der Komponist sein Stück, eine verschämte Mischung von neuem rhythmischen Grundgefühl amerikanischer Prägung (Swing - bereits mehr oder weniger gekonnter Standard der meisten Nazi-Tanzorchester während der Kriegszeit) und alten deutschen Tanztraditionen (Polka). Freudenjodler schmücken den Refrain, in dessen Mittelteil aber auch ein Walking-Bass im Boogiestil eingeflochten wird. Mollstimmung prägt den Versteil, der vom Text her sogar an den großen Durchhalteschlager "Davon geht die Welt nicht unter" Zarah Leanders erinnert.

Musik/Text: Jary/Balz 1942: DAVON GEHT DIE WELT NICHT UNTER                                                Musik/Text: Beul/von Pinelli 1946: NACH REGEN SCHEINT SONNE

1      
Wenn mal mein Herz unglücklich liebt,
ist es vor Kummer unsagbar betrübt,
dann denk' ich immer: Ach, alles ist aus, ich bin so allein...
Wo ist ein Mensch, der mich versteht,
so hab' ich manchmal voll Sehnsucht gefleht.
Ja, aber dann gewöhn' ich mich dran und ich sah es ein:
2
Geht dir einmal alles verkehrt, scheint dir das Leben garnichts mehr wert, dann laß' dir sagen: Das ist zu ertragen, ja, hör' auf mich!
Denkst du einmal: Ich kann nicht mehr, kommen auch Stunden, so glücklos und schwer, ach, jedes Leid das heilt mit der Zeit, darum sing' wie ich:

1
Manchmal glaubst du, daß es nicht mehr weiter geht,
und dein Herz ist schwer und ohne Mut,
bis die Sonne plötzlich hell am Himmel steht,
und du fühlst, es wird doch alles gut.

2
Fragst du mich, warum ich niemals traurig bin,
sag' ich dir als kurze Antwort gleich:
"Hat das Weinen und Sich-Grämen wirklich Sinn?
Lache, und du bist im Himmelreich."

Refrain
Davon geht die Welt nicht unter, sieht man sie manchmal auch grau .....

Refrain
Nach'm Regen scheint Sonne, nach'm Weinen wird g'lacht....   (folgt Jodler)

 

Wie häufig bei derartigen Liedern, krönt eine klare, positive Dur-Farbe den Refrain, nachdem zunächst im Versteil düstere Molltöne vorherrschen - die Wende ins Freundliche, ins Klare.

Gerade diese metaphorischen Stücke mit ihren indirekten, eher sublingual vernehmbaren Botschaften scheinen in der Schlagergeschichte schon immer die erfolgreicheren gewesen zu sein. Dies trifft nicht zu auf jene Lieder in der frühen Nachkriegszeit, die allzu direkt und unverblümt deutlich werden. Kein Erfolg etwa wurde ein Lied mit dem Titel "Freut Euch, wir leben noch!", auf dem Cover geschmückt mit Fachwerkruinen und lustigen Deutschen. Im Text geht es um Kriegsende, Wohnungsnot, Lebensmittelmangel, Frieden - im Walzertakt, aber wohl ohne das notwendige Maß an Unklarheit, Vieldeutigkeit und Individualisierbarkeit (allerdings auch ohne jede musikalische Originalität). [Musik/Text: Ossmann/Heiland o.J. (ca. 1945/46); vom gleichen Autorenpaar gibt es auch den Rheinländer "Die Dausend Johr sin öm" (= Die tausend Jahre sind um"), ein "heiteres Lied in kölnischer Mundart" als Abschiedspottgesang auf die Nazi-Zeit, aber ebenfalls kein Erfolg!]

Die Deutschen - eine verlassene Herde

Schon recht bald nach Kriegsende gab es wieder deutsche Filmproduktionen, in der Regel durch das erprobte Personal der Filmindustrie aus der Nazi-Zeit. Nur wenige Emigranten und Verfolgte fanden wieder Arbeit und setzten sich durch. Besonders deutlich zeigt sich dies im Unterhaltungsgenre, kaum einer der 1933 vertriebenen Kreativen fand sich wieder ein. Billy Wilder, Fritz Lang, Franz Wachsmann (=Waxman), Friedrich Hollaender, Donald Sirk, Mischa Spoliansky u.v.a. kamen entweder erst sehr viel später oder gar nicht mehr zurück in das Land ihrer früheren Erfolge.

Hier bestimmten nach wie vor die Filmschaffenden aus der Nazizeit die Szene, ergänzt und leicht modifiziert durch Nachwuchs, der in der Kriegszeit seine ersten Gehversuche im deutschen Kino machen konnte und jetzt den Durchbruch suchte. Nicht nur, daß viele UFA-Filme der Kriegszeit wieder gezeigt werden konnten, es kamen auch ein Reihe von zwar fertiggestellten, aber noch nicht veröffentlichten Filmen aus der Nazi-Zeit (mit Erlaubnis der Alliierten) in die Kinos.

Zum neuen, zeittypischen Thema wurden die sog. "Trümmerfilme", die in der Regel Schicksale von Kriegsheimkehrern und Flüchtlingen im Ambiente der zerstörten Städte thematisieren. Nicht daß sie sich in besonderer Weise um eine intensive Auseinandersetzung mit der Nazizeit bemühten, ihre Ursachen und Auswirkungen zu erläutern und zu verarbeiten dachten: Es dominierte vielmehr sentimentales Opferbewußtsein, eher klischeehaft werden die Nazi-Schurken gezeichnet, eher individualistisch kriminalisiert, während die braven Deutschen vom Schicksal gebeutelt werden. Und auch manche Filmschlager dieser Jahre orientieren sich an den speziell deutschen Gefühlen nach dem verlorenen Krieg.

Zum Beispiel in dem Film UND ÜBER UNS DER HIMMEL (1947, R: Josef von Baky, M: Theo Mackeben [Theo Mackeben (1897-1953), der Komponist, galt schon in den 20er Jahren als ein moderner Tanzmusikschreiber, der neben zahlreichen Hits die Musik zu vielen Erfolgsfilmen und Operetten schrieb. Er konnte dies in der Nazi-Zeit und dann in der Nachkriegszeit fortsetzen als einer der Großen der Zunft. Das Lied wurde übrigens auch von Udo Lindenberg interpretiert, auf seiner CD "Hermine", 1988.]): Hans Albers, der "blonde Hans", der kraftvolle Männertyp des deutschen Films der 30er und 40er Jahre singt bei einem bedeutungsschweren Gang durch Berliner Trümmerfelder am Potsdamer Platz (auf dem Anwohner Gemüse anbauen und Trümmerfrauen Steine klopfen) das Titellied: "...und über uns der Himmel"(Musik/Text: Mackeben/Freytag 1947), trotz "schlicht und einfach" als Vortragsanweisung umgeben von einem bombastischen, mit Frauenchören überzuckerten sinfonischen Arrangement. Aber gleichwohl ein recht gut erfundenes, melancholisches Trauerlied, das mit einem der typischen Sext-Aufschwünge anhebt (ähnlich wie in Michael Jarys Durchhaltelied aus der Kriegszeit "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n") [Musik/Text: Jary/Balz 1942]. In der Melodiestruktur klingt ein altes Volkslied nach, das nicht schlecht auf die Situation paßt und möglicherweise mit seinem alten Optimismus eine sublinguale Botschaft unterhalb der Liedoberfläche mit den im Nordwinde verwehten Deutschen vermittelt: "Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand, dir, Land voll Lieb' und Leben, mein deutsches Vaterland." [Musik/Text: traditionell 1821, M.F. Massmann 1820]

 

Es weht der Wind von Norden. Er weht uns hin und her.

Was ist aus uns geworden? Ein Häufchen Sand am Meer.

Der Sturm jagt das Sandkorn weiter,

dem unser Leben gleicht.

Er fegt uns von der Leiter. Wir sind wie Staub so leicht.

Was soll nun werden? Es muß doch weitergehn!

Noch bleibt ja Hoffnung für uns genug bestehn.

Wir fangen alle von vorne an, weil dieses Dasein

auch schön sein kann.

Der Wind weht von allen Seiten.

So laß den Wind doch wehn!

Denn über uns der Himmel läßt uns nicht untergehn!

 

 

Albers verkörpert einen Schwarzmarktschieber, der jedoch in der Auseinandersetzung mit seinem kriegsverwundeten Sohn sein verfehltes Lebenskonzept erkennt und ändert. Das Lied markiert den Wendepunkt, es bettet den egoistischen Kriminellen ein in das Volk der fleißigen Deutschen beim Neuanfang, eine etwas schwülstige Ode an den inneren und äußeren "Wiederaufbau". Allerdings haben die Deutschen enorme Identitätsprobleme, sie sind nichts als "Sand am Meer", beschwören aber - es wirkt nicht überzeugend, eher trotzig und rituell - eine bessere Zukunft, vertrauen auf Gott. Am Schluß der Liedsequenz hört man aus einer Schule das "Vater unser" von Kindern gebetet, derart direkt beziehbar auf Nachkriegsdeutsche: "...und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!". Für einen Schlager, ein Erfolgslied, klingt die Botschaft merkwürdig fatal und dunkel. Nichts weist auf Ursachen hin, kein noch so kleiner Hinweis auf eigene Schuld. Ein verlassene Herde, hilflos dem Wind ausgesetzt, aber ohne Reue, ohne Verständnis für die Lage, in der sie sich befindet, um Mitleid heischend. Aus dem Filmzusammenhang heraus entwickelt das Lied zugleich eine Didaktik der demokratischen Moral: versagungsvoll arbeiten, keine Schwarzmarkt-Geschäfte, keine Gaunereien in dieser Zeit. Es muß weitergehen, die Deutschen sind Opfer der Zeiten, aber sie dürfen nochmals von vorne anfangen. Rundherum weht der Wind fühlbar unangenehm. Aber der Himmel wird es schon richten...

Übrigens wirkt die Perspektive der moralischen Aufrüstung hier ganz anders als etwa in Billy Wilders Berlin-Film A FOREIGN AFFAIR (1948; außer Wilder wirken u.a. auch die Emigranten Friedrich Hollaender und Marlene Dietrich mit. Sie agieren allerdings im Hollywood-Studio und werden in die Berliner Trümmerfelder einmontiert.). Da wird der kriminelle Alltag der Schwarzmarktsituation als selbstverständlich und für das Überleben notwendig angenommen.

"Hallo Fräulein": Die Musterschüler

Für viele, insbesondere junge Deutsche waren insbesondere die amerikanischen Befreier positive Erscheinungen: sauber, gut genährt, auch in Uniform recht flott angezogen, mit alltäglichen Luxusgütern gut versorgt. Ihr lässiger Verhaltensstil regte zur Nachahmung an, die moderne Tanzmusik der Soldatensender AFN und BFN rangierte bei jungen deutschen Radiohörern an der Spitze ihrer Hörinteressen. Hier konnte man die neusten Hits aus Übersee vernehmen, auch schwarze Popmusik (der deutsche Rundfunk hielt sich dabei eher zurück) und Jazz: Symbole von Modernität, von Fortschritt, von Jugendlichkeit, junger Musik und Raffinesse... In den damaligen Jazzfans sah die Mehrheit der übrigen Deutschen allerdings keine Nachkriegshelden, sondern eher Nestbeschmutzer. Auf sie richtete man immer noch die Vorurteile der vergangenen Jahrzehnte. Angloamerikanischen Lebensstil und Musik empfanden die deutschen Traditionsvertreter als barbarisch, als dekadent und kulturell minderwertig. Immer noch wirkten die Nazi-Parolen nach, die seit den 20er Jahren jazzorientierte Musik als "jüdisch-bolschewistische Afterkunst" schmähten und in der Kriegszeit Jazz als feindliche Unkultur in die Köpfe und Gefühle der Bevölkerung gehämmert hatten.

In einem Film von 1949 - HALLO FRÄULEIN (R: Rudolf Jugert, M: Friedrich Meyer) wird dieser Sachverhalt thematisiert. Das Drehbuch basiert auf den persönlichen Erfahrungen der Hauptdarstellerin: Margot Hielscher, eine ehemalige Kostümzeichnerin der UFA, dann junge Darstellerin in verschiedenen Filmen während der Kriegszeit [ca. 10 Filme vor 1945, darunter vor allem FRAUEN SIND KEINE ENGEL, 1943 (Filmmusik mit Titellied von Theo Mackeben, ihr musikalisches Markenzeichen)], trat nach Kriegsende als Sängerin zusammen mit Bands, auch solchen unter amerikanischer Leitung, in Clubs auf und gab Konzerte. Ihre Filmidee kam über einen amerikanischen Kontrolloffizier, den Emigranten Erich Pommer (vor 1933 berühmter Produktionsleiter der UFA) zum Film. Als Mitspieler agierte der ebenfalls emigrierte Schauspieler Peter van Eyck, jetzt im realen Leben ebenfalls amerikanischer Kontrolloffizier im Filmbereich.

Und er spielt einen solchen, einen amerikanischen Captain, der - selbst Musiker - die Qualifikation deutscher Unterhaltungskünstler überprüft [Mit dieser, allerdings nicht gerade atemberaubenden Fertigkeit ernährte sich auch der reale junge van Eyck in den ersten Jahren seiner Emigration.. Also auf mehreren Ebenen eine eng mit Realität verknüpfter Film.]. Margot Hielscher singt ihm vor, er findet es nicht überzeugend: "That's jazz made in Germany", meint er abschätzig. Dann zeigt er ihr am Klavier, wie das richtig zu klingen habe und erläutert den Kern des Problems: "Jazz ist gar nicht so sehr eine besondere Art von Musik, das ist der Ausdruck eines besonderen Lebensgefühls! Sie singen alles viel zu sentimental, nehmen es viel zu wichtig...[....]...Wer nicht begriffen hat, was salopp ist, wird Amerika nie begreifen!"

Im Grunde ist der Film ein Propagandafilm im Kontext der Umerziehung der Deutschen. Zwar gibt sich der Amerikaner anfangs recht überheblich, aber schließlich führt der Film im Verlauf vor, wie Deutsche und Amerikaner ganz vernünftig miteinander auskommen können, bei Wahrung ihrer Eigenheiten. Der Versuch Hielschers, eine Jazzband zu gründen, findet zunächst den Spott des Captains. Doch am Ende macht er selbst mit und spielt mit Hielschers Band vor amerikanischem und deutschem Publikum. Obwohl in dem Film-Deutschland heftige Streitigkeiten um den Jazz ausbrechen: letzenendes überzeugen Musik und Künstler das Publikum. Hans Söhnker, ein deutscher Ingenieur und Konkurrent des Amerikaners um die Gunst von Margot Hielscher, schwadroniert in einer Tischrede über die Musik der deutsch-amerikanischen Band: "Das war für mich der schönste Erfolg ...[ ]...diese Musik erfüllte plötzlich das höchste Ziel: Getrenntes zu verbinden, aus Feinden Freunde zu machen, und aus einer Fülle unterschiedlicher Einzelstimmen eine Harmonie zu formen, eine moderne Harmonie!" Und an einer anderen Stelle: "Ich finde, alle anständigen Menschen sollten fraternisieren, um ein Gegengewicht zu schaffen gegen die Fraternisierung der Unanständigen!" Der Captain stimmt zu - einerseits als ironische Bagatellisierung des "Fraternisierungsverbots" für die Besatzungstruppen, andererseits als eine vorsichtige Andeutung bevorstehender Frontenbildungen im Kalten Krieg. Immerhin zeichnete sich diese weltpolitisch und für Deutschland bedeutsame Auseinandersetzung der nächsten Jahrzehnte während der Produktionszeit des Films deutlich ab: Ausgelöst von der westdeutschen Währungsreform kam es zur Teilung Berlins, zur Berliner Blockade und mancherlei feindseligen Auseinandersetzungen. Im Monat der deutschen Erstaufführung des Films (13. Mai 1949) ging gerade die Blockade Berlins zu Ende - aber die Ost-West-Auseinandersetzung begann nun erst richtig.

Söhnkers Moralrede paßt in diese Situation gut hinein, Westdeutsche und Amerikaner "fraternisieren" gemeinsam gegen "die Unanständigen", den finsteren kommunistischen Osten nämlich.

Aber auch die "Fraternisierung" zwischen Besatzern und Besetzten, von den Streitkräften zunächst strikt verboten, ereignete sich im alltäglichen Umgang miteinander zunehmend häufiger. Zum Zeitpunkt der Filmveröffentlichung kann die ironische Handhabung des Tabus der "Fraternisierung" und das höchst integrative Umgehen von Amerikanern und Deutschen in diesem Film noch als recht mutig eingeschätzt werden, vielleicht aber auch als eine gezielte Behauptung zunehmender "Normalisierung".

Das Handlungskonzept des Films ist die Auseinandersetzung junger Musiker mit dem etwas störrischen deutschen Publikum, das erst allmählich von den Qualitäten der Jazzmusik überzeugt werden muß. Die Musik des Films behauptet zwar, Jazz zu sein, doch ist sie tatsächlich weit davon entfernt. [Die Musik des Films stammt übrigens von Friedrich Meyer, dem vormaligen Leiter des Tanzorchesters des Soldatensenders Belgrad, in der Nachkriegszeit Gründer des Tanzorchesters von Radio Bremen und häufig beim Film beschäftigt.] So etwa das "Swing - swing - swing", das im Film so gehandhabt wird, als wäre es ein amerikanischer Standard: der Captain fragt die Deutsche, ob ihr der Song geläufig sei. Sie bestätigt, kenne ihn als Schwarzhörerin der BBC, einer der während der Kriegszeit verbotenen "Feindsender". Ausgerechnet Friedrich Meyer, der Mann vom Soldatensender Belgrad, ist für diesen "Jazztitel" verantwortlich, ein harmloser Foxtrot, durchsetzt mit einigen biederen Synkopen. "Daß die Welt sich ändert, ist der Welt Geschick. Und es ändert mit ihr sich auch die Musik..." verkündet der Vers seine musikalische Schicksalsbotschaft, im Refrain kommt dann die deutsche Kulturtradition zum Zuge: "Ich geh gern in die Oper, denn das finde ich schick. Doch der Swing, Swing, Swing ist für mch die schönste Musik." Weder ging das Massenpublikum in die Oper, noch läßt sich diese Musik als "Swing" bezeichnen - aber für das Kinopublikum konnte dieses Mittelmaß mit seinen Heucheleien gewiß erträglich sein.

Das erscheint gerade als eine taktische Maßnahme der Filmindustrie, die zwar verbal Modernität behauptet, tatsächlich aber recht harmlose deutsche Tanzmusik präsentiert, weitaus weniger jazzig, als während der Kriegszeit gespielt wurde und auch in der Nachkriegszeit von den neuen Rundfunkorchestern oder den anderen renommierten Bigbands. In den wesentlichen Musiksequenzen der Films dominiert der harmlose Durchschnitt, wenn nicht gar pathetisch-aufgeblasener Kitsch. So etwa in einer schwülstigen Ballade "Wenn die Baumwollfelder blüh'n" mit manierierten Anklängen an schwarze Spirituals.

Sowohl in der jungen deutschen Jazzszene (mit Zentren in Berlin, Frankfurt, Dresden, Leipzig u.a.) als auch in den Rundfunksendern gab es durchaus interessanten Jazz von deutschen Musikern. Davon zeugt eine dramaturgisch fast belanglose Sequenz dieses Films (eine Musikerfeier nach ihrem Auftritt), in der aber erstaunlicherweise moderner Jazz gespielt wird, nämlich Bebop (zu den Musikern im Film zählen u.a. Helmut Zacharias und Freddy Brocksieper). Offenbar ein Test auf die Akzeptanz aktueller Musikströmungen im Massenpublikum, in seiner musikalischen Brisanz damals wahrscheinlich unbemerkt geblieben.

Interessanterweise brachten es die Haupttitel dieses Films nicht zu dauerndem Erfolg, sie wurden zu "nevergreens", wie Margot Hielscher ironisch bemerkte.

Auch in anderen Filmen dieser Jahre taucht immer wieder jazzorientiert Musik auf, gelegentlich als Ausdruck von Lebenslust, als Medium aktueller Tanzfreuden und nicht etwa als "entartete Kunst" zu verstehen, wie in dem Film WER BIST DU, DEN ICH LIEBE (1949, R: Bolvary, M: Theo Mackeben, es spielt das Orchester Kurt Edelhagen), obwohl ein entgeisterter Barbesucher fragt: "Was ist denn das für eine Höllenmusik?". In dem Film DER APFEL IST AB (1948, R: Helmut Käutner, M: Bernhard Eichhorn) wird Jazz als Attribut der Hölle präsentiert, allerdings einer kabarettistisch-schrägen Ausführung des Orts der Verdammten. Üblicherweise tritt Jazz oder jazzartige Musik mit der Konnotation "verrucht", "Unterwelt", "lasziv", "erotisch" in Erscheinung, sozusagen als akustische Requisite einschlägiger Situationen.

Neben den "Trümmerfilmen", jenen sentimentalen, vor Selbstmitleid triefenden Versuchen zur Gegenwartsbewältigung, gab es eine Reihe von Filmen, die mit Sarkasmus, Witz und kabarettistischer Frechheit versuchten, ihre Zeit sowohl kritisch wie komisch zu sehen. Dazu gehören DER APFEL IST AB, aber auch BERLINER BALLADE (R: R.A.Stemmle, M: W. Eisbrenner, G. Neumann), HERRLICHE ZEITEN (1950, R: E. Ode, M: W. Eisbrenner, G. Neumann) oder der FILM OHNE TITEL (1947, R: R. Jugert, M: B. Eichhorn). Es gibt dabei eine Reihe mehr oder weniger witziger Chansons, die zwar kaum einmal größere Bekanntheit erlangen, jedoch einen in der Regel direkteren Zeitbezug als die sonstigen Filmschlager aufweisen.
[So wird etwa der Titel "Also wissen Se, nee", gesungen von Bully Buhlan, aus BERLINER BALLADE, komponiert von  G. Neumann, zu einem großen Erfolg, jedoch nicht in der Filmfassung, die nur sehr knapp ausfällt, sondern in der später über Radio und Platte veröffentlichten Version. Der Film, in dem der damals noch sehr schlanke Gert Fröbe den zum Symbol gewordenen "Otto Normalverbraucher" spielt, erhielt übrigens auf der Biennale von Venedig 1949 einen Sonderpreis für "Geistvolle Darstellung der Nachkriegsverhältnisse".]

Konterbande: alte Melodien in neuem Gewand?

In einigen Liedern der Nachkriegszeit lassen sich Relikte aus früheren Zeiten entdecken. Zufall, Absicht, Raffinesse oder Trick? Vielleicht neigen bestimmte Gefühlsrepertoires zu tradiertem musikalischen Material. Vielleicht steckten aber auch in den neuen Gefühlen immer noch die alten Reste, lassen sich immer noch frühere Emotionen in abgemilderter Form weiter ausleben, wenn auch unter der Tarnkappe neuer Lieder.

Besonders merkwürdig erscheint ein Fall, in dem ein sehr bekannt gewordener Schlager mit einem Plagiatsvorwurf konfrontiert wurde. Und zwar ein Schlager, der aus einem politischen Vorgang seine Idee holte, nämlich aus der Währungsreform 1948.

Am 20.Juni 1948 wurde wegen der starken Geldentwertung und des für die wirtschaftliche Entwicklung sehr hinderlichen Tauschhandels zunächst nur in den Westzonen, in "Trizonesien", die alte Währung aus der Nazi-Zeit durch die neue D-Mark ersetzt. Daraus ergaben sich politisch sehr schwerwiegende Konsequenzen, die zur ersten Berlin-Krise, zur Teilung der Stadt Berlin, zur Berlin-Blockade, der Versorgungs-Luftbrücke, der zunehmenden Trennung der Ost- und Westzonen führten und schließlich 1949 zur Konstituierung der beiden deutschen Staaten mit den bekannten Folgen.

Schlagartig erschienen bislang gehortete Waren nun wieder im Angebot, zwar jetzt gegen Geld erhältlich, aber doch sehr teuer in Anbetracht der bescheidenen Verfügbarkeit über die neue D-Mark bei der Mehrheit der Bevölkerung. Auch die Arbeitslosigkeit stieg erheblich. Zahlreiche gewerkschaftliche Proteststreiks kulminierten am 12. November 1948 in einem Generalstreik.

Auf diese Situation bezog sich der Schlager "Wer soll das bezahlen", einer der großen Karnevalslieder der Saison 1949/50 und bis heute immer wieder zu hören [Musik/Text: Schmitz/Stein (= Feltz) 1949]. Ein Stoßseufzer, in den alle einstimmen konnten angesichts ihrer wirtschaftlichen Notlage. Und im dritten Vers wird auch die Situation in den Westzonen sehr direkt angesprochen, wobei auffällt, wie unsicher die "Ängstlichen", also die Sänger/Hörer des Lieds, den neuen Staatsgründungen gegenüberstehen:

In der Presse wird von einem Plagiatsvorwurf berichtet, denn dieses bis heute bekannte Lied entspricht in fataler Weise einem Soldatenmarsch - "Sie hieß Marie und treu war sie" - , der 1936 von Wiga Gabriel für die Wehrmacht geschrieben wurde und im Rheinland sehr verbreitet gewesen sein soll (beide Autoren von "Wer soll das bezahlen" kommen aus Köln am Rhein![vgl. Der Spiegel, Ausgabe vom 27.4.1950]). Notengetreu, nur jetzt im ¾-Takt, entsprechen sich die Refrains beider Lieder. Für das schnelle Nachsingen dieses Stimmungsliedes war die bereits eingegrabene Erinnerungsspur des älteren Soldatenlieds gewiß von Vorteil. Und verräterisch erscheint auch der Ausdruck "Marie" für Geld, ein in Deutschland durchaus gebräuchliches Slang-Synonym (vielleicht rührt diese Variante gar von dem Lied her?).

 

 

 

 

 

 

 

 

Wiga Gabriel, der den Soldatenmarsch "Sie hieß Marie" 1935 komponiert hatte - 1936 übrigens auch den Großerfolg "In München steht ein Hofbräuhaus" - und jetzt die Vorwürfe gegen die Autoren des Plagiats, Jupp Schmitz und Kurt Feltz erhob, war allerdings auch nicht unerfahren beim Abschreiben älterer Hits. Nur kurz vor dem aktuellen Streit hatte er Feltz einen Titel zur Veröffentlichung angeboten, den dieser wegen allzu deutlicher Anklänge an eines der bekanntesten Nazi-Lieder, das Horst-Wessel-Lied, kurz zuvor abgelehnt hatte. Tatsächlich ähneln sich die melodischen Gesten wie auch der zurgrunde liegende harmonische Rhythmus der Refrains beider Lieder sehr stark, wobei auch hier die simple Methode der Verwandlung des 4/4-Marschrhythmus in das gemütliche ¾-Metrum eines Schunkelwalzers angewendet wird. ["Mein blonder Hans" (Gabriel, 1949); das "Horst-Wessel-Lied" , zur Nazizeit stets im Anschluß an die Nationalhymne gesungen, wurde vermutlich aus einem hessischen Soldatenlied abgeleitet und mit dem Text des jungen Nazis Horst Wessel versehen. Sein Tod 1930 wurde von der NSDAP propagandistisch ausgewertet.]

Möglicherweise hat Feltz und Schmitz die Idee dieses Einschmuggelns neuer Lieder über alte Erinnerungen überzeugt und zu einer ähnlichen Maßnahme bei "Wer soll das bezahlen" bewogen. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Unverfrorenheit diese Heuchler Geschäftskalkul und Moral miteinander verwechseln.

Ein andere Erfolgskomponist der populären Musik seit den 20er Jahren, Fred Raymond, hat ebenfalls im Medium des Karnevallieds eine geschickte Collage älteren Liedguts vorgelegt, daß in seiner Gegensätzlichkeit durchaus ironisch gemeint sein kann - sofern der Kenner die Feinheiten der Resteverwertung älteren Materials überhaupt erkennt. [Fred Raymond (1900-1954) hat viele Erfolgstitel geschrieben, darunter etwa "Ich hab das Fräulein Helen baden sehn" (1924), "Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren" (1924), "In einer kleinen Konditorei (1930), die Operette "Maske in Blau" (1936) und während seiner Zeit am Soldatensender Belgrad den Trostschlager "Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei" (1941). "Wir sind die alten geblieben" wurde 1949 veröffentlicht, Musik von Fred Raymond, Text von Ludwig Andersen.]

Bezeichnenderweise heißt das Lied "Wir sind die Alten geblieben" (1949), eine merkwürdige Beschwörung des Nachkriegsdeutschen, der seine traditionelle Identität - welche auch immer - nachdrücklich, fast trotzig behauptet: "Wir sind die alten geblieben trotz alledem und grade erst recht..". Und diese Behauptung wird zur ¾-Version einer aus der "Internationale" bekannten Melodiephrase gesungen. Aber dieses Lied hat nicht nur eine kommunistische, sozialdemokratische und gewerkschaftliche Vergangenheit, auch die Nazis haben es mit verändertem Text - "Brüder in Zechen und Gruben" - gesungen (dieses Vereinnahmen traditioneller Lieder aus der Arbeiterbewegung durch die Nazis hat noch bei anderen Liedern stattgefunden). Konterkariert das Melodiezitat die scheinbar klare Aussage des Textes? Übt Raymond Kritik an den immer noch vorhandenen Lagern im politischen Konflikt der Zeit? Das nächste Zitat beschwört die deutsche Romantik - "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten", Heinrich Heines "Loreley" - und verschmilzt mit dem Text "Wir könne noch lachen und lieben, auch sonst ist alles noch echt." Wird hier behauptet, daß auch im Nachkriegsdeutschland immer noch die deutschen Werte der Gemütlichkeit und romantischen Idylle möglich sind? Daß der "Dichter unbekannt" - so unterschlug man den jüdischen Textautor Heinrich Heine des berühmten Lieds von der "Loreley" in Nazi-Büchern - etwas beschädigt, aber durchaus kenntlich überlebt hat?

Und kann es Sarkasmus sein, der sich zu Melodieresten des Deutschlandlieds so vernehmen läßt: "Nach links geschunkelt, nach rechts gelacht..."? [Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine neue deutsche Nationalhymne, weder im Westen noch im Osten. Das Deutschlandlied wurde erst 1952 wieder mit seiner 3. Strophe als Nationalhymne installiert. Zuvor war dieses Lied nach einer Melodie von Haydn und mit dem Text von Hoffmann von Fallersleben (1841) in der Weimarer Republik Nationalhymne, anschließend auch in der Nazizeit, jedoch dort verbunden mit dem Horst-Wessel-Lied, einem Nazi-Propagandalied von 1930.  Bis zur Gründung der BRD blieb die Hymne vom Alliierten Kontrollrat, wie andere NS-Symbole auch, verboten.]

"Freut euch des Lebens", ruft Raymond mit einem weiteren Melodiestückchen in Erinnerung, ein Rat zum fröhlichen Vergessen? [Das Originallied stammt von H. G. Nägeli (1795), Text von Usteri (1793), und wird bis heute gern als Stimmungslied gesungen.]

Und schließlich scheint auch etwas Eigenwerbung enthalten zu sein. Eine kleine Melodiefloskel könnte aus Raymonds eigenem Erfolgslied "Es geht alles vorüber" stammen, nämlich zur Fortführung der Titelzeile: "Es geht alles vorbei!" [Dieses Lied wurde deswegen so sehr bekannt, weil es als Eröffnungslied einer regelmäßigen Abendsendung im Soldatensender Belgrad fungierte]. Deren Melodiereste tragen nun die Botschaft "Wir haben uns alles so lieb..." ??

Refrain:

Der gesamte Liedtext lautet wie folgt:

Die Naiven: "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien"

Karnevalslieder haben oft die Fähigkeit, ganz deutlich Sachverhalte anzusprechen, die sonst bei kühlem Verstand kaum geäußert werden. Ganz analog zur tradierten Funktion diese Festes, bei dem für eine gewisse Zeit im Jahr die üblichen Fesseln gutbürgerlicher Zivilisation gelockert, bei dem rauschhaft über die Normen des gesitteten Umgangs miteinander hinausgegangen und, eingebettet in lautstarker Fröhlichkeit, manches aus dem geheimen Triebleben realisiert werden kann. Dabei gerät man nicht unbedingt in die Gefilde realer Wahrheit, sondern durchaus auch in Regionen utopischer Wunschbilder und Selbsttäuschungen. Ein recht interessantes Beispiel bietet ein Lied des Mainzer Schuhmachers und Laiensängers Ernst Neger, das in der Nachkriegszeit entstand und bis heute bei entsprechenden Gelegenheiten gesungen wird - eine der großen Karnevalshymnen aus dem rheinischen Narrenzentrum Mainz. Es hat allerdings seinen alten Nachkriegskontext von 1947 verloren und wirkt heute als ein sentimentales, zu vielfältigen Anlässen benutzbares freundliches Trostlied im Mainzer Dialekt, dessen Refrain auf diverse aktuelle Vorstrophen tröstend antwortet: "Heile, heile Gänsje, es wird ja wieder gut!" [Eine Kinderliedfloskel, die bei  kleinen Verletzungen tröstend und mit Streicheln verbunden angewendet wird. Hier fungiert sie als Refrain eines Karnevalslieds.]. Damals allerdings sang Ernst Neger Worte, die schon lange nicht mehr zu hören sind und die unmittelbare Umgebung des Nachkriegsmainz ansprechen. So gebraucht er Bilder vom dem zerstörten Mainz und behauptete ganz ungeniert: "Wir sind ja nicht dran schuld!". Offenbar bringt der Karnevalsrausch die "neuen Opfer" in einen Zustand, der sie ihren Anteil an den Schuttbergen vergessen läßt.

Schlimmer allerdings präsentiert ein Lied im Winter 1948/49, zur Karnevalsaison im besetzten Deutschland, heute schier unglaubliche Aussagen vom inneren Zustand der Deutschen: "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien" (Marschfox, Text u. Musik: Karl Berbuer, Köln 1948).

Bis heute verfügen die Generationen der Betroffenen über das Lied, speichern es ohne Probleme als alten Schlager aus der Zeit von Luftbrücke und Währungsreform. Damals, 1949, kam er schnell in die Rundfunkwunschlisten und erlangte einen hohen Bekanntheitsgrad. Er taugte sogar als nationales Symbol, denn es wird berichtet, daß das Trizonesienlied gelegentlich bei internationalen Sportwettkämpfen (z.B. in Köln 1949) neben ausländischen Hymnen als deutsche Nationalmusik eingesetzt wurde. Und merkwürdigerweise wird es als Indiz für gewonnene Distanz zum vergangenen Krieg gedeutet, als humorvolles Lachen über die eigene Situation [vgl. Werner Mezger: Schlager, Tübingen 1975, S.151; Fred Ritzel: "Wir sind zwar keine Menschenfresser, doch wir küssen um so besser!": Deutschlandbilder im Schlager, in: Detlef Hoffmann/ Karl Ermert (Hg.): Deutschlandbilder - oder doch nur Bilder von Deutschland?. Loccumer Protokolle 65/1990, Loccum 1991, S.62-77].  Musikalisch ein hemdsärmeliger Marsch-Foxtrot,

1 Mein lieber Freund, mein lieber Freund,

die alten Zeiten sind vorbei,

ob man da lacht, ob man da weint,

die Welt geht weiter, eins, zwei, drei.

Ein kleines Häuflein Diplomaten

macht heut die große Politik,

sie schaffen Zonen, ändern Staaten.

Und was ist hier mit uns im Augenblick?

2 Columbus fand Amerika,

ein neuer Erdteil ward entdeckt,

was Marco Polo alles sah,

wurd' dann von der Kultur beleckt.

Sven Hedin war am Himalaya,

er schritt durch heißen Wüstensand.

Am Nordpol stand Amundsens Heija,

doch uns hat keiner je zuvor gekannt:

3 Doch fremder Mann, damit du's weißt,

ein Trizonesier hat Humor,

er hat Kultur, er hat auch Geist,

darin macht keiner ihm was vor.

Selbst Goethe stammt aus Trizonesien,

Beethovens Wiege ist bekannt.

Nein, sowas gibt's nicht in Chinesien,

darum sind wir auch stolz auf unser Land.

Refrain:

Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien,

Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!

Wir haben Mägdelein mit feurig wildem Wesien,

Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!

Wir sind zwar keine Menschenfresser,

doch wir küssen um so besser.

Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien,

Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!

 

Zur Erinnerung: Noch waren diese westdeutschen Eingeborenen nicht Bürger der Bundesrepublik, sondern "befreite" bzw. nach dem "Zusammenbruch" übriggebliebene Kriegsgegner der Alliierten. Aber die künftigen Machtblöcke rückten bereits zurecht und gegeneinander. Auf der westlichen Seite die drei Besatzungszonen der Amerikaner, Engländer und Franzosen, im Osten die sowjetische Besatzungszone mit Berlin als Viermächtestadt. Als "Trizonesier" verstehen sich nun die Einwohner der westlichen Besatzungszonen.

Für die Auseinandersetzung mit der Nazizeit, kaum vergangen und drückend präsent in ihren Konsequenzen für den Alltag, finden die Trizonesier an der Oberfläche ihrer Botschaft nur eine kleine Zeile : "Die alten Zeiten sind vorbei", weg damit, sie stören nur, man muß sie vergessen. Für die "Welt" ist das auch kein Problem, 1-2-3 hat sie den Schauplatz der alten Sünden verlassen. Und mit den "Eingeborenen" geht sie gar ungnädig um: Ein Häuflein von Diplomaten handhabt den politischen Zustand der Welt, schafft Zonen und Staaten. Das "heut'" des Textes provoziert die Frage nach "früher"! Scheinbar muß es da anders gewesen sein? Eine der glanzvollsten Fehlleistungen dieses Schlagertextes reinigt die deutsche Vergangenheit von Diktatur und rücksichtsloser Verletzung der Souveränität der Nachbarstaaten.

Ganz schlimm kommt es aber dann mit dem Refrain. Man kann schon erschrecken über die Dickfelligkeit dieser deutschen "Narren", die ohne Skrupel, gerade nachdem sie Millionen Menschen umgebracht haben, oder für ihren gewaltsamen Tod mit den Grund lieferten, bierselig davon singen, daß sie keine Menschenfresser seien. Die verkorkste Grammatik des Satzes verweist darauf, daß er die völlig daneben geratene Antwort auf eine Frage darstellt, auf die der Trizonesier eigentlich so hätte antworten müssen: "Wir sind zwar keine Menschenfresser, aber wir haben Millionen Menschen umgebracht."

Eine Hymne des Neuanfangs, von der Welt noch unentdeckte Wesen mit weißer Weste, die gleichwohl viel zu bieten haben: Goethe, Beethoven, Großkultur. Daß diese als Herrschaftskultur, als Ersatzgewalt für schiefgegangene politische Obergewalt verstanden werden kann, darauf weist der hochmütige Hinweis an die Adresse des "fremden Manns", des bornierten Kolonialherrn (d.h. also an die von den deutschen Aggressionen befreite Welt), daß in Sachen Kultur und Geist ihm "keiner was vormacht".

Wäre es verwegen auch "Chinesien" umzudeuten, als Symbol für obskure Ferne, für überschätzte bzw. gefürchtete Exotik - als eine Metapher für Judentum? Ist der Stolz, den man für seine nationale Zugehörigkeit beansprucht, dadurch beschrieben, daß er sich von "Chinesen" und anderen "Untermenschen" überlegen absetzt?

Der Text klingt nach geheucheltem Understatement, nach einem Anspruch heischenden Neuaufbau einer Identität, die gerade durch den Krieg und die Nazizeit weitgehend zerstört zu sein schien. Vor der Weltöffentlichkeit "Stolz" zu demonstrieren, das war sicher für die jungen westdeutschen Eingeborenen eine psychopolitische Notwendigkeit.

Der Schlager bastelt dabei an ähnlichen Ersatzkonstruktionen deutscher Identität wie etwa deutsche Geistesgrößen vom Range eines Friedrich Meinecke, der 1946 in seinem Buch "Die deutsche Katastrophe" als neuen Weg eine Erneuerung des Deutschtums aus dem Geist der Klassik heraus vorgeschlagen und die moralische Wiederaufrüstung durch sonntägliche Goethefeiern allen Ernstes für empfehlenswert gehalten hatte [vgl. Anton Kaes: From Hitler to Heimat: The Return of History as Film, Cambridge 1989, S.21]. Obwohl diese Verbindung von deutschen Geistestaten mit dem akuten Deutschland im Kopf und Alltag von Politikern und sonstigen deutschen Leuten schon immer, auch in der Nazizeit, zur Steigerung des angeschlagenen Selbstwertgefühls herhalten mußte, kommt ihm jetzt in der Nachkriegszeit eine besondere Bedeutung zu. Das politische Deutschland ist zerschlagen, materiell wie ideologisch. Gerade im Bereich der Kultur bot sich ein betretbarer Freiraum zur Artikulation neuer deutscher Identität. Das "andere" (= bessere) Deutschland sollte präsentiert werden. Selbst auf dem Wege der Geschichtsklitterung und mit dem Charakter einer neurotischen Verdrängung.

Das Trizonesien-Lied hat seinen historischen Kontext nicht verloren, das verhindert schon die eindeutige Titelzeile, die eigentlich zu direkt einen konkreten historischen Sachverhalt anspricht, als daß ein lang anhaltender Schlagererfolg daraus entstehen könnte. Vermutlich aber ist seine Entlastungsfunktion, sein heiterer Kehrhaus von Krieg und Kriegsfolgen, das Erfolgsmotiv. Und dies hat seine Rezeptionsgeschichte und das nicht vorhandene schlechte Gewissen über diese Botschaft eventuell herbeigeführt: die Deutschen haben den Eindruck, daß sie wieder lachen können und niemand daran Anstoß nimmt. Und dazu das Gefühl, daß die Welt sie trotz aller schiefgelaufenen Auseinandersetzungen als Menschen mit Humor, Geist und Kultur wahrnimmt.

Insgesamt scheint die Folgerung berechtigt, daß Tucholskys These von der Aussagekraft der Schlager auch in der Nachkriegszeit bemerkenswerte Einsichten in die tieferen Gefühlsregionen der Deutschen ermöglicht. So haften ihrer eskapistischen Grundstimmung charakteristische Farben an. Gedämpfte Freude über den von den Gegnern erzwungenen Frieden macht sich bemerkbar, metaphernreich und recht verklausuliert, trotz aller Erschwernisse im Alltag. Aber dies scheint eher die Ausnahme. Vor allem aber zeugen die Schlager von Verdrängung und von dem mühsamen Versuch zur Entwicklung einer neuen Identität. Diese hat wenig konkreten Bezug zur jüngsten Vergangenheit und entbindet die SchlagernutzerInnen weitgehend von den kollektiven Handlungen oder Nicht-Handlungen der Nazizeit. Als verlassene Herde irren die Menschen im Nordwind der Wüste, nur vom Himmel beschützt - eine offenkundige Opfermentalität.

Merkwürdige Konstruktionen lassen sie als neue, naive Wilde erscheinen, die in die Völkergemeinschaft immerhin eine gewichtige kulturelle Tradition einbringen können. So, als wäre gerade das, und nicht die Barbarei der Vergangenheit, ein Bestimmungsmoment ihrer Gegenwart. Und auch ein neuer "Feind" hat sich formiert, gegen den die Allianz der "Guten im Westen" - selbstverständlich zählen sich die Westdeutschen dazu - allmählich ihre Instrumentarien der Aggression aufbaut.

Zahlreiche Schlager künden von einer erheblichen Bereitschaft, sich auf die Fremden aus dem Westen einzulassen: ihre Musik wird interessiert aufgenommen, ihre Sprache wird gelernt, viele Begriffe dieser Sprache gehen als Fremdwörter in den deutschen Wortschatz ein. Und immer gibt es einen leichten Unterton von Überheblichkeit, auch von gutwilliger Komik, mit dem das exotische Fremde übernommen wird. Diese Ambivalenz läßt etwas Herablassung spüren, mit der die Besiegten ihre auch moralisch katastrophale Niederlage wohl psychisch leichter verarbeiten können.

Die wenigen kritischen, auch selbstkritischen Töne, die vor allem aus dem Bereich des Kabarettfilms stammen, bleiben weitgehend erfolglos. Am genauesten scheinen die Botschaften in den Kern des deutsche Nachkriegswesens zu treffen, die auch ambivalente, unklare, widersprechende Relikte aus der Vergangenheit gefühlsmäßig bewegen, vielleicht mit der in ihrer Widersprüchlichkeit treffendsten Behauptung: "Wir sind die alten geblieben!" (und damit könnte man auch die guten Traditionen der Deutschen subsummieren).

 

Am Anfang der 50er Jahre scheinen sich die Schlagerbotschaften auf eine neue heile Welt zu verständigen, in der es aufwärts geht. Selbst die Gegner von einst werden instrumentalisiert: "Wenn ich will, stiehlt der Bill mit mir Pferde (Happy-happy Days)" singen Vera Molnar und Gerhard Wendland in dem Film DIE DRITTE VON RECHTS (1950; R: G. v.. Czffra, Musik/Text: M. Jary, B. Balz) und 1952 hören wir schließlich im Karneval "Wir kommen alle in den Himmel" [Musik/Text: Schmitz/Feltz, 1952] - ein beruhigendes Zeichen??