Fred Ritzel (Oldenburg)

 

DIE SCHÖNE, DAS SCHLIMME UND EIN SCHÖNER ALTER SCHLAGER

 

Zur Filmmusikdramaturgie in Carlos Sauras DULCES HORAS (Zärtliche Stunden, 1981)

 

In zahlreichen Filmen hat sich der Filmregisseur Carlos Saura (* 1932) mit der frühen Vergangenheit seiner Filmpersonen auseinandergesetzt, mit Ereignissen in ihrer Kindheit, mit Konflikten in der Familie, mit späteren Auswirkungen (Saura selbst verarbeitet auch immer wieder biographische Fragmente aus seinem eigenen Leben in seinen Filmen. So auch in DULCES HORAS. Vgl. Hans M. Eichenlaub: Carlos Saura. Ein Filmbuch, Freiburg: Dreisam-Verlag 1984, S. 146-147). Dabei ergeben sich interessante dramaturgische  Verwicklungen und der Zuschauer muss sich häufig in verschiedenen, nicht immer sofort erkennbaren Zeitebenen zurechtfinden. So in CRIA CUERVOS (Züchte Raben, 1975), LA PRIMA ANGELICA (Schwester Angelika, 1973), EL JARDIN DE LAS DELICIAS (Garten der Lüste, 1970) und insbesondere in DULCES HORAS (Zärtliche Stunden, 1981), dessen Musikdramaturgie hier besprochen werden soll (zu politischen Aspekten des Films vgl. Marvin D'Lugo, The films of Carlos Saura. The practice of seeing, Princeton NJ: Princeton University Press 1991, S. 173-174,176). Saura verfügt über eine profunde musikalische Bildung und scheint sehr bewusst und kalkuliert mit Musik als dramaturgischem Parameter zu arbeiten. Auch dann, wenn nicht ein eigener Filmkomponist für den Soundtrack verantwortlich ist, sondern Saura – wie in diesem Film - auf existente Musik zurückgreift.   

 

Handlung:   

Juan, ein etwa 40jähriger Galerist und Autor, kämpft mit unklaren Erinnerungen an seine  Vergangenheit, mit den Erinnerungen an die Ereignisse in seiner Familie während seiner Kindheit und insbesondere an seine heißgeliebte Mutter. Seine Schwester hält ihm vor, dass er manches verkläre und falsch erinnere. Er sucht nach Aufklärung, blättert in Fotoalben, liest Briefe seiner Eltern, führt  Gespräche mit der Schwester.

Und er entwickelt eine Theaterproduktion, in der er seine Kindheit und Jugend in der Familie nachspielen lässt, um eine neue Sichtweise auf  sein früheres Leben zu gewinnen und traumatische Erinnerungen oder Verdrängungen aufzuarbeiten. Seine schöne Mutter spielt eine zentrale Rolle bei dieser Vergangenheitsrekonstruktion. In Juans Erinnerung umsorgte sie ihn als ein wunderschöner Engel, der seine Kindheit bestimmte, ihn mit Zärtlichkeiten überhäufte und ihm in Notsituationen beistand. Der Vater verlässt die Familie – zunächst scheinbar beruflich motiviert. Seine Briefe an die Mutter verraten jedoch bald, dass er sich auch emotional entfernt hat und nicht mehr zurückzukehren gedenkt. 

Der kleine Juanico  fungiert als Ansprechpartner seiner zutiefst enttäuschten Mutter und insofern als Ersatz für den aus der Familie geflüchteten Vater. Ihrem Sohn erzählt sie von ihren ersten Begegnungen mit dem Ehemann. Aber er erfährt im Laufe der Vergangenheitsrekonstruktion auch – und hat es offenbar verdrängt -, dass ihn seine Mutter nach der Flucht des Vaters aus der Familie zum Zeugen und Gehilfen ihres Selbstmords macht.

Auf der Suche nach der Darstellerin seiner Mutter findet er eine nach seiner Meinung täuschend ähnlich aussehende junge Schauspielerin (Berta). In seinen Erinnerungen taucht genau diese Frau als Mutter auf und der Zuschauer muss gelegentlich rätseln, ob er einer Erinnerung oder einer Spielszene beiwohnt.

In der filmischen Gegenwart verliebt sich Juan in die Darstellerin seiner Mutter, die Schauspielerin Berta. Schließlich kommen beide zusammen, werden ein Paar. Am Ende des Films wohnen sie offenbar zusammen, sie ist schwanger, er wird wie ein kleiner verschmutzter Junge in der Badewanne  spielerisch gesäubert. 

 

Sehr spannend erweist sich das filmische Spiel mit mehreren, oft unvermittelt auftauchenden wechselnden Zeitebenen, die nicht immer sofort zu enträtseln sind.  Da gibt es in der Gegenwart die Aktivitäten Juans bei der Vorbereitung seiner Theaterproduktion, seine Gespräche mit der Schwester, seine Brieflektüre, seine Bemühungen um  die junge Schauspielerin Berta. Daneben steht die Zeit, die durch die Spielhandlung definiert wird - die 1930er und 40er Jahre in Spanien. Natürlich spielt die Arbeit an der Theaterproduktion in der filmischen Gegenwart. Und schließlich erscheinen Erinnerungsbilder in der Gegenwart, die in die früheren Zeiten zurückreichen. So redet in einigen Sequenzen Juan bei den Proben seines Psychodramas als Kind oder Jugendlicher, ist aber als Erwachsener zu sehen. Besonders widersprüchlich geraten Sequenzen, in denen der erwachsene Juan und der junge Juan, Juanico, gemeinsam auftreten – also unzweifelhaft ein Erinnerungsbild in der Realität der filmischen Gegenwart agiert (etwa in Seq. 8, 25, 33) (Mit "Seq." ist "Sequenz" gemeint, die jeweilige Ziffer verweist auf die entsprechend nummerierte Sequenz im Sequenzprotokoll, s. Anhang).

Die Filmhandlung zeigt immer wieder ohne nähere Verdeutlichung  Szenen aus seinem Familienleben, die sich jedoch meist als Spielszenen seines Rekonstruktionstheaters entpuppen.

Und auch das Agieren der Schauspieler verwirrt gelegentlich, wenn sie etwa Fehler im Dialog machen oder vorübergehend aus ihrem Rollenspiel heraustreten.

In diesem Geflecht mehrerer Zeitebenen spielt die Filmmusik eine wichtige Rolle. Sie vermittelt zwischen ihnen und klärt Positionen. Dies geschieht sowohl auf diegetische wie auch auf extradiegetische Weise (Ein ähnliches Vermischen verschiedener Zeitebenen findet sich in Sauras berühmtem CARMEN-Film (1982), der im Anschluss an DULCES HORAS gedreht wurde. Vgl. dazu Fred Ritzel: Oper und Musik im Film: CARMEN (1983), in: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.): Fischer Filmgeschichte Bd.5, Frankfurt: Fischer 1995, S.120-136).

Wie dies konkret erfolgt, sei hier an drei Erzählsträngen erläutert, die solche  Teilerzählungen oder Musikgeschichten zeigen, wie sie durch die Verklammerung über identische Musik entstehen und wahrgenommen werden können. (Zu diesem Verfahren vgl. auch Fred Ritzel/Jens Thiele: Kritik oder Blasphemie? Über die Rekonstruktion von Musikereignissen der Nazizeit in R.W. Fassbinders "Lili Marleen", in: AMPF (Hg.): Musikpädagogische Forschung Bd.10, Essen: Verlag Blaue Eule 1990, S. 162-180.) Diese Musikgeschichten erzählen neben der Filmhandlung relativ eigenständige Sachverhalte, bringen Meinungen, Gefühle und Positionen deutlicher zum Ausdruck.

Neben den Leitmusiken tauchen noch einige andere Musikmaterialien auf, die jedoch keinen ähnlich bedeutsamen dramaturgischen Anteil an der Filmerzählung haben und auch nicht über Wiederholungen als Leitmusiken fungieren. Sie dienen der historischen Auskleidung bestimmter Orte und Situationen (so der Schlager "Mirame" im Bordell, Seq. 15) oder der semantischen Akzentuierung, wie etwa Berlioz' "Marche au supplice" (Hector Berlioz, op.14, Symphonie fantastique, aus dem 4. Satz "Marche au Supplice") bei der Stalingrad-Erzählung von Onkel Antonio (Seq. 24) .

 

I. Musikgeschichte "Scarlatti"

Eine erste musikgenerierte Teilerzählung  wird durch eine Sonate von Domenico Scarlatti  (K32, d-moll) vermittelt. Diese ruhige, recht kurze Sonate ertönt meist in voller Länge. Sie taucht fünfmal auf und begleitet Sequenzen mit der Mutter, dieser „außergewöhnlichen, schönen, intelligenten und sensiblen Frau", wie Juan sie seiner Mutterdarstellerin Berta gegenüber charakterisiert. Dabei reicht diese Musikgeschichte von Beginn seiner "Erinnerungsarbeit" bis in die filmische Gegenwart, wo Juan die Sonate seiner (inzwischen ebenfalls) geliebten Mutterdarstellerin Berta auf der Stereoanlage vorführt – "Gefällt Dir die Musik?" – "Ja. Gar nicht übel".  

Was aber vermittelt dieser Erzählstrang "Scarlatti"? 

Zunächst kündet er von schönen, liebevollen Erinnerungen Juans (beim anfänglichen Lesen der Briefe seiner Eltern, Seq. 5-7). Beim zweiten Auftreten (Seq. 13) kommt es zu einer heiklen Stelle, in der deutlich wird, dass Juan in seine Mutter verliebt ist und diese ihm ebenfalls außerordentlich zärtliche und offenherzige Zuneigung entgegenbringt. Teresa, die Mutter, erzählt ihrem Sohn von den ersten Treffen  mit ihrem künftigen Ehemann, nicht ohne auf erotische Gefühle dabei einzugehen. Und sie zieht sich währenddessen um, wobei sie kurzzeitig völlig nackt vor ihrem halbwüchsigen Sohn steht, der, obwohl sie ihn auffordert, die Augen zu schließen, sich  diesem Wunsch der Mutter schelmisch widersetzt.

Der dritte Scarlatti-Auftritt (Seq. 20) zeigt die fürsorgliche Mutter, die mit ihrem Sohn während eines Bombenangriffs zu einem Schutzraum hastet. Trotz schlimmer Umstände und hektischer Eile grundiert die ruhige Scarlatti-Sonate die Situation und vermittelt Geborgenheit im Schutz der Mutter. Diese drei Einsätze der Scarlatti-Sonate erfolgen extradiegetisch und beziehen sich auf Juans Erinnerungsgefühle – rein, sensibel, zärtlich.

Beim vierten Mal (Seq. 22) ereignet sich erstmals ein Wechsel der Musikebene von der Extradiegese in die Diegese, aus dem Off der Filmmusik in die auditive Situation der akuten Filmhandlung. Zunächst meint man, die Scarlatti-Sonate wie bisher als Filmmusik wahrzunehmen (Erinnerung an die Mutter während eines Gesprächs mit der Schauspielerin Berta), bemerkt jedoch im Verlauf der anschließenden Sequenz, die über eine Audioblende folgt, dass eine Stereoanlage das Stück spielt, also diegetisch. Dieser Prozess von der Musik aus dem Off (Filmmusik)  in die Musik der Szene (Eine Diskussion der unterschiedlichen Begriffe für extradiegetischen und diegetischen Musikeinsatz im Film findet sich u.a. bei Claudia Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg: Wißner  2001, S.19-23) erscheint mir aufschlussreich. Er kündet von einer deutlichen Wende in Juans Vergangenheitssicht, deutet das Begreifen der Rolle seiner Mutter in seiner Erinnerung an, modifiziert sie allmählich durch seine Zuneigung zu seiner Mutterdarstellerin. Berta wird dem "Scarlatti-Test" unterzogen und windet sich geschickt aus der Situation.  Teresa als Objekt kindlicher Liebe kann jetzt offenbar beim erwachsenen Juan durch die schöne Berta ersetzt werden.

In der letzten, der fünften Scarlatti-Sequenz (Seq. 29) gibt es nur noch die diegetische Musikpräsentation, allerdings in der Vergangenheit als Erinnerungsvision: Die Mutter spielt die Musik eigenhändig am Klavier und Kinder und Mann hören zu. Hier scheinen klare familiäre Verhältnisse zu herrschen und die biographische Verankerung  der Bindung der Mutterfigur an die Scarlatti-Sonate ihren konkreten Ausgangspunkt zu haben.

Doch was bedeutet dieses Vorgehen? Hat Juan erkannt, was in  seiner Kindheit problematisch verlaufen ist, hat er die auch erotisch eingefärbte Beziehung zu seiner Mutter in ein vernünftiges Mutter-Sohn-Verhältnis gebracht? Modifiziert Bertas Reaktion auf die Scarlatti-Sonate – "nicht übel" – die magische Bindung Juans an seine schöne und scheinbar sensible Mutter in eine  neue, weniger verklärende, realistischere Einschätzung?

Die ruhige, abgeklärt Schönheit der Scarlatti-Sonate prägt die Mutter-Erinnerung, die mir nicht als eine erotisch oder gar pervers aufgeladene Gefühlssituation erscheint (so etwa beim 2. Auftreten der Sonate in Sequenz 13), sondern Schönheit, Ruhe und Zuneigung ausstrahlt, selbst wenn sich die Mutter schließlich als eine höchst problematische und ihre Umgebung manipulierende Frau erweist.  Scarlatti, Teresa und Juanico umschreiben eine intime, hermetische Mutter-Kind-Dyade, die offenbar in sich noch keine sog. Triangulierung, keine Korrektur durch den Vater als dritte Person in diesem Beziehungsnetz zulässt, sondern hermetisch in ihrer engen Verstrickung bleibt. Diese enge Bindung führt soweit, dass Juan Berta erklärt, dass ihn von seinem 18. Lebensjahr an nichts mehr interessierte (in Seq. 17).

 

II. Musikgeschichte "Ravel"

Die Auseinandersetzung mit einer zweiten "Musikgeschichte" ermöglicht weitere Aufhellungen der recht komplexen Erinnerungsarbeit. Es geht um           Ausschnitte aus Maurice Ravels "La Valse", die stets dann erklingen, wenn Böses, Misteriöses, Verwirrendes, Gefährliches sich bemerkbar zu machen scheint, wenn eine Katastrophe im Hintergrund lauert (Diese Einschätzung des Ravel-Walzers unterscheidet sich von derjenigen Renate Gomppers in ihrer Dissertation (Carlos Saura und die "totale Realität". Die Kraft der Erinnerung in seinem filmischen Werk, Frankfurt: Peter Lang 1994, S. 277 ff.). Und stets verläuft diese Musik extradiegetisch, bleibt außerhalb des Raums, in dem die Filmpersonen sie hören könnten. Sie spiegelt das innere Geschehen der Personen und schafft spezifische Atmosphären an den Handlungsorten.

Die Walzer-Phasen werden in der Abfolge ihres Auftretens erläutert.

 

1. Auftreten – Selbstmordzimmer (Seq.3/4)

Mit einer Tonblende von der Landhausterrasse der Familie leitet der Katastrophen-Walzer in das von Juan erinnerte  Schlafzimmer seiner Mutter Teresa. Gerade hat Juan den Selbstmord der Mutter angesprochen und nun schweift sein Erinnerungsblick zurück in das Schlafzimmer. Zu den Klängen von "La Valse" liest Teresa als Erinnerungsvision entsetzt einen Brief ihres Mannes. Juanico, der junge Juan,  bringt der Mutter ein kleines Päckchen aus der Apotheke. Sie bittet ihn unter Tränen nachdrücklich, niemals zu vergessen, dass sie ihn "mehr als alles auf der Welt geliebt habe"(!). Er verlässt das Schlafzimmer wieder und Teresa bereitet sich den tödlichen Trank. Soweit der Erinnerungen Juans an diese Schlüsselszene, die, wie sich später herausstellen wird, eine fatale Erinnerungslücke aufweist.

 

2. Auftreten – Briefe der Eltern und der Park der Erinnerungen (Seq.7/8)

Beim Lesen der Briefe seiner Eltern, die ihm seine Schwester auf der Landhausterrasse gegeben hat, dominiert zunächst noch die Erinnerung an die wunderbare Mutter – Scarlattis Sonate beeinflusst anfänglich das Erinnerungsgeschehen in dieser Sequenz, deutet den Empfang und das nächtliche Lesen der Briefe bis zum frühen Morgen an. Doch dann ändert sich die Situation, Juan liest  von den Problemen seines Vaters und der Reaktion seiner Mutter, zunehmend schleicht sich der Ravel-Walzer in den extradiegetischen Hintergrund und lässt Böses ahnen. Und schließlich brandet er auf, mit einem abrupten Einstellungswechsel in den Madrider Retiro-Park, den Juan auf dem Weg zu seiner Wohnung durchquert, von den  Nachwirkungen des gerade Gelesenen begleitet. Scheinbar jubiliert der Walzer ganz freudig. Doch, als er sich selbst als Jungen im Park vorbeigehen sieht, klingt es recht zweifelnd, fragend, verunsichert.

 

3. Auftreten – Von der Probe zum Park der Erinnerungen (Seq.10/11)

In der 2. Probe gerät ein Schauspieler, der "Onkel" mit der Stalingrad-Erzählung, außer sich und wirkt völlig verwirrt. "Wer sind diese Leute?" fragt er zu der Gruppe, die Juans Familie spielt. Und Juan antwortet, es sei seine Familie. Der Katastrophen-Walzer hebt erneut an, gewinnt Präsenz als Juan das Haus verlässt und seine Mutter (als Erinnerungsvision) am Fenster winken sieht. Aufgrund der Kleidung ist ersichtlich, dass es sich nicht um die Schauspielerin Berta handelt, die gerade noch auf der Probe als "Mutter" agierte. Offenbar wird Juan durch diese Vision seiner Mutter Teresa beruhigt, die Aufregung der Spielszene klingt ab. Und offenbar rückt die Vergangenheit wieder in den Vordergrund von Juans Gegenwart.

 

4. Auftreten – Selbstmordzimmer und die richtigen Erinnerungen (Seq.24-26)

In einer Erinnerungsschleife taucht das Schlafzimmer der Mutter wieder auf (s. 1. Auftreten in Seq. 4). Der Ablauf der Ereignisse entspricht weitgehend dem ersten Erinnerungsversuch, jedoch mit einer entscheidenden Änderung am Schluss: Juanico hat keineswegs den Raum verlassen, sondern er wird Zeuge des Selbstmords seiner Mutter. Sie lässt es zu, dass er zusieht, wie sie den Todestrank zubereitet und ihn zu sich nimmt.

Dieses traumatische Ereignis belastet den Sohn so stark, dass er eine völlig andere Mutter in Erinnerung behält, als diejenige, die ihn tatsächlich gegen  den Vater instrumentalisiert und stets die Deutungsmacht über das familiäre Geschehen beansprucht. So erfolgreich, dass Juan seinen Vater als Verräter und Betrüger wahrnimmt und er selbst sich gar als mitverantwortlich für den Selbstmord der Mutter begreift.

 

Ravels Musik wirkt nicht als euphorischer Walzer, sondern als ein verstörender Gefühlshintergrund an wichtigen, an zentralen Erinnerungsorten. Euphorie allenfalls als vorübergehende Gefühlslage. Die Musik geht stets – wie die anderen Leitmusiken auch -  als Tonblende in die folgende Einstellung über, die dann den zentralen Ort des Schreckens zeigt.

 

III. Musikgeschichte "Recordar"

Worte aus dem Refrain eines melancholischen alten Schlagers der 1930er Jahre liefern den Titel des Film: "Dulces Horas" (= Zärtliche Stunden). Sicherlich ein Lied, das Saura seit seiner Kindheit kannte und das er auch in einem früheren Film, in DER GARTEN DER LÜSTE (El jardin de las delicias, 1970), in derselben alten Einspielung von Imperio Argentina schon einmal eingesetzt hatte (M: Charles Borel-Clerc, T: José Luis Salado; geschrieben für den Film SU NOCHE DE BODAS (Ihre Hochzeitsnacht, R: Mercanton/Rey 1931)). Vielleicht recht vielsagend, dass diese Sängerin und Schauspielerin gerade in den 1930er und 1940er Jahren im faschistischen Spanien berühmt war (und auch in drei NS-Filmen mitgespielt hat).  Ihr Lied erinnert an eine vergangene spanische Epoche, an eine höchst problematische Phase in der politischen Entwicklung des Landes und seiner Bürger. Und die Melodie aktiviert Erinnerungen, sowohl persönliche des Regisseurs Saura, wie auch die im Film thematisierten seines Protagonisten Juan, dessen Erinnerungen an seine bürgerliche Familie im Film in die 1930er und 1940er Jahre zurückreichen (Etwas hergeholt erscheint mir die Meinung von Renate Gompper, der zufolge es sich um einen versteckten Seitenhieb auf das Franco-Regime handele, da die Premiere des Films SU NOCHE DE BODAS am selben Tag stattfand, wie die Ausrufung der Republik (14. März 1931). Renate Gompper: Carlos Saura und die "totale Realität". Die Kraft der Erinnerung in seinem filmischen Werk, Frankfurt: Peter Lang 1994, S.76).

Hier der Text von "Recordar" :

Buscas tan solo al marcharte

alegre vida vivir

siempre sonreír

nunca podrás olvidarte

si lejos estás de mí

en tu amor viví.

Du willst nur weggehen,

um ein fröhliches Leben zu leben,

um immer zu lachen.

Niemals wirst du vergessen, wenn du fern von mir bist,

dass ich in deiner Liebe lebte.

Recordar  las dulces horas del ayer

Recordar   aquel amor de antaño

Es placer que aromará nuestra vejez.

 

Recordar aquella noche loca.

Erinnern an die zärtlichen Stunden damals,

Erinnern an diese frühere Liebe

Es ist ein Vergnügen, das unserem Alter Duft verleihen wird.

Erinnern an diese verrückte Nacht

Aquellas cosas  no han sido olvidadas

Aquellas rosas no han sido deshojadas

Diese Ereignisse sind nicht vergessen, diese Rosen sind nicht entblättert worden.

Recordar así es amarnos otra vez

Recordar los besos de tu boca

Recordar  las dulces horas del ayer

Recordar  aquel amor de antaño.

Es placer quiero parar de estremecer

Recordar aquella noche loca.

Erinnern, so wie wir uns wieder lieben.

Erinnern an die Küsse deines Mundes.

Erinnern an die schönen Stunden damals,

Erinnern an diese frühere Liebe.

Es ist ein Vergnügen, das uns erschauern macht.

Erinnern an diese verrückte Nacht

Recordar los días amargos otra vez

Recordar los besos de tu boca.

Erinnern wieder an die bitteren Tage

Erinnern an die Küsse deines Mundes.

Also ein Lied über die Rückerinnerung eines Liebespaars und seine Trennung. Hier untermalt das Lied die Erinnerung des Sohns an seine heißgeliebte Mutter, die durch ihren Selbstmord die fast inzestuöse Beziehung zu ihrem Sohn real beendet hatte. Jedoch für Juan blieb eine ungelöste, traumatische Last zurück.

Dabei zeigt die Entwicklung der Liedauftritte, dass das lustvolle Erinnern der Personen seiner Familie wie insbesondere seiner Mutter auch als erotische Komponente die körperlichen Reize des Dienstmädchens Olga einbezieht. 

Das Lied prägt exponierte Stellen des Films. Es beginnt mit dem Film, bindet Titel, Credits und Erinnerungsblättern im Fotoalbum und beendet schließlich den Film im Übergang der letzten Sequenzen in den Abspann.  Dieses "Recordar" steht wohl vorwiegend für die angenehme Rückschau auf bestimmte vergangene Ereignisse, es begleitet und vermittelt schöne Gefühle und durchdringt Erinnerungsorte, holt die "zärtlichen Stunden" aus der Vergangenheit in die Gegenwart.  Und es taucht ausschließlich in der filmischen Gegenwart auf, dieses Lied mit seinem melancholischen Flair der 1930er Jahre.

 

1. Auftreten

Beim Filmstart begleitet der schöne alte  Schlager den in einem Familienalbum blätternden Juan. Mit den letzten Bildern dieser Einleitungssequenz kommt als Höhepunkt herangezoomt das Bild seiner schönen Mutter mit ihm und seiner Schwester als Kinder. Erinnern ist das Thema, Erinnern an "zärtliche Stunden" – ein wunderbares, schönes Gefühl.

Und so lautet auch der Titel des Theaterspiels, das Juan als Autor verfasst hat das seine Kindheit und Jugend aufarbeiten soll.

 

2. Auftreten

Mit dem 2. Auftreten des Lieds gelangt der Zuschauer in die Familieninszenierung, mit dem Dienstmädchen Olga als erotische Bezugsperson und dann in die Auseinandersetzung mit der  Familie (Mutter, Großmutter, Onkel, Tanten), die den zu spät nach Hause gekommenen Jungen ausfragen  und rügen und ihm den Besuch eines unmoralischen Films (GILDA mit Rita Hayworth) vorwerfen (GILDA, R: Charles Vidor, D: Rita Hayworth u.a., USA 1946. Da weist das Textbuch des Autors Juan wohl einen zeitlichen Fehler auf, denn die Familienszenen spielen während des 2. Weltkriegs. Der Film aber kam erst Dezember 1947 in die spanischen Kinos). Juan spielt sich in dieser Szene selbst als Junge. Also auch hier eine im Grunde angenehme Erinnerung, über die Musik in einen historischen Zeitraum versetzt.

 

3. Auftreten

Juan und Berta küssen sich im Retiro-Park, einem Hauptort des Erinnerungsgeschehens, und plötzlich sieht der kleine Juanico den beiden zu, eine Vision Juans, die an eine zuvor erinnerte Situation mit Vater und Mutter an ebendieser Stelle im Park gemahnt, in der der kleine Juanico  eifersüchtig den Vater von der Mutter trennt und diese sich ihm äußerst liebevoll zuwendet (Seq. 11). Eingeleitet wurde diese frühere Situation von dem Katastrophenwalzer (3. Auftreten).

Jetzt reagiert die Vision Juanico völlig anders. Juanico läuft zu dem Paar und nimmt beide liebevoll in den Arm und alle drei küssen sich. Dies ereignet sich zum instrumentalen Vorspiel von "Recordar". Also auch hier eine von der Musik umschlossene positive Wendung des Geschehens.

Eine veränderte Situation, der Junge scheint einverstanden mit der Entwicklung. Er küsst jetzt ohne Eifersucht und er – wie auch sein 40-jähriges Alterego Juan - darf küssen ohne inzestuöse Hintergedanken, denn Berta ist für beide nicht mehr die Inkarnation der Mutter Teresa, sondern die junge, attraktive Schauspielerin Berta.

Und Berta setzt noch einen neuen Akzent. In der nächsten Einstellung ist sie zu sehen, wie sie - neuerdings schwanger - durch die Wohnung geht und den in der vorigen Sequenz einleitend begonnenen  Schlager "Recordar" weiterführend "singt", d.h. sie agiert lippensynchron zum Originalgesang von Imperio Argentina.

Während des Zwischenspiels tut Berta spielerisch so, als ob sie als Teresa ihren kleinen Sohn Juan (den erwachsenen Juan!) in der Badewanne wäscht.

Die Töne kommen von der alten Platte, die aber – so die Filmwahrnehmung - offenbar extradiegetisch eingesetzt wird.

Was bedeutet dies?  Scheint Teresa in Bertas Gestalt wiedergekehrt? Hat Juan in seiner Partnerin Berta seine alte Liebe zur Mutter wieder aktualisiert? Ist das ironische Spiel mit dem alten Schlager eine von Berta bewusst inszenierte Badewannen-Performance? Allerdings singt Berta nicht selbst, sondern tut nur so!

Geht die ganze schwierige Geschichte von vorn los? Hat Juan die beiden Frauen Berta und Teresa – die für ihn unheimlich ähnlich aussehen (die Schauspielerin Assumpta Serna spielt beide Filmrollen!) wieder zu einer Person verschmolzen und kann seine Liebe zur Mutter neu leben – obwohl er inzwischen weiß, was sie ihm angetan hat?

Eine wunderbare Schlusswendung des Films, der ähnlich wie der Schluss von CARMEN vielerlei Möglichkeiten der Deutung und Stoff für viele Debatten bietet (Carlos Saura: CARMEN, 1983). 

Saura erklärt in einem Interview mit Henri Talvat:

"..Et la fin du film est très spéciale, je ne l'ai pas comprise moi-même, je n'avais aucune explication.  C'est dans cette direction que j'aimerais travailler, dans cette espèce de jeu conscient / inconscient, ce rapport au passé... En chacun de nous il y a un peu un enfant, un adolescent qui, à un moment de sa vie, fait des bêtises hors de la ligne, des choses d'une violence incroyable dont on ne comprend pas pourquoi et comment elles arrivent..."

(Henri Talvat : Le Mystère Saura, Castelnau-le-Lez : Editions Climats 1992, S.120. "Das Ende des Film ist sehr speziell, ich habe es selbst nicht begriffen, ich habe keine Erklärung. In dieser Richtung liebe ich es zu arbeiten, in dieser Art des bewussten/unbewussten Spiels, diese Beziehung zur Vergangenheit ... In jedem von uns steckt etwas vom Kind, vom Jugendlichen, der in einem Moment seines Lebens Dummheiten macht außer der Reihe, Sachen von einer unglaublichen Gewalt, wobei man  nicht begreift, warum und wie sie sich ereignen ...")

Und so hat Carlos Saura wieder einmal sein Filmpublikum in eine schwierige Situation gebracht: es muss produktiv werden, das Ende der "Zärtlichen Stunden" erscheint nicht als einfache und konsequente Lösung.

Oder doch?