Der folgende Artikel entstand für ein Buch über Filmmusik, das Hans-Christian Schmidt (Universität Osnabrück) bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt mit zahlreichen in- und ausländischen Beiträgen 1994 herausgeben wollte. Leider scheiterte das Vorhaben, da es ihm nicht gelang, die versprochenen Aufsätze rechtzeitig zu bekommen. 1996 wurde das Buchprojekt abgesagt.
Mein Beitrag war damals zwar rechtzeitig fertig, droht nun allerdings durch den immer länger werdenden Zeitverzug - und neue Bücher über Greenaway - an Aktualität zu verlieren. Vielleicht ist dies hier ein geeigneter nostalgischer Ort zur Veröffentlichung. An neueren Veröffentlichungen zu Nyman seien u.a. genannt:
    Pwyll ap Siôn:        The Music of Michael Nyman. Texts, Contexts and Intertexts, Aldershot: Ashgate 2007,
    Carlo Cenciarelli:    The Case Against Nyman Revisited: "Affirmative" and "Critical" Evidence in Michael Nyman's Appropriation of Mozart, in:  Radical Musicology, Vol. 1, 2006, http://www.radical-musicology.org.uk

Gleichwohl: eine Benutzung meines Textes (auch nur in Teilen) ist nur nach Rücksprache und Erlaubnis durch den Autor möglich.


Fred Ritzel (1993)
PLANSPIELE: ZUM VERHÄLTNIS VON BILD UND MUSIK BEI PETER GREENAWAY UND MICHAEL NYMAN

Die langjährige Zusammenarbeit des englischen Filmemachers Peter Greenaway mit dem Komponisten Michael Nyman gehört zu den Merkwürdigkeiten im europäischen Filmschaffen. Obwohl beide häufig betonen, wie eng ihre ästhetischen Konzeptionen aufeinander bezogen sind, fällt doch eine starke Diskrepanz zwischen den aufwendigen, in fast barocker Opulenz präsentierten Bildinszenierungen Greenaways und einer fast kunstgewerblich simplen, der Minimal-Ästhetik verpflichteten Musik auf. Auch die konstruktiven Feinheiten der visuellen Schicht, die verwickelten, beziehungs- und anspielungsreichen Szenerien, durchsetzt mit Symbolen, Zitaten und anderen Überraschungen finden - zumindest in der spontanen Wahrnehmung - keine vergleichbar komplexen Entsprechungen in der Filmmusik. Sie geht leicht in die Ohren, schmiegt sich in der Regel ohne Widerhaken in die Bildhandlung ein, hat nur relativ einfache, ganzheitliche "Erinnerungen" zu bieten - etwa an Purcell (DER KONTRAKT DES ZEICHNERS, 1982) oder Mozart (VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN, 1988).

Eine einfache Erklärung für die unzweifelhafte Wirksamkeit der Musik Nymans läßt sich vielleicht aus der Figur-Grund-Beziehung ableiten: Gerade die Fülle und Komplexität der Greenawayschen Bilderwelten könnte eine einfache auditive Grundierung erforderlich machen, die die visuelle Vielfalt im Wahrnehmungsraum vereinheitlicht und bindet. Und trotz möglicherweise schwacher Prägnanz und Originalität dieser Musik: Sie ist erfolgreich, viele Filmzuschauer sind gerade von ihr begeistert, zahlreiche Nyman-Fans besitzen die "Soundtracks" (die übrigens manchmal nur teilweise mit den originalen Filmsoundtracks übereinstimmen).

Aber auch aus einem anderen Grund erscheint die Zusammenarbeit von Greenaway und Nyman bemerkenswert: Nur selten kann ein Filmkomponist bereits im Stadium der Planung Einfluß nehmen auf den Prozeß der Filmentstehung, meist entsteht die Musik unter Zeitdruck und erst nach dem Rohschnitt. Nyman und Greenaway dagegen diskutieren in der Regel bereits während der Vorbereitung ihrer Produktion intensiv strukturelle, dramaturgische und musikalische Konzepte. Daraufhin entsteht die Musik - meist mehr, als dann hinterher im Film benötigt wird. Die Soundtrack-CD's zeigen dies, etwa die CD DROWNING BY NUMBERS (=VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN): Einige Titel kommen im Film nicht vor (etwa der "Wedding Tango" oder "Deadman's Catch") oder erklingen in einem veränderten Arrangement (wie bei "Wheelbarrow Walk").

Bereits seit den 60er Jahren arbeiten Greenaway und Nyman zusammen, damals allerdings im Bereich des experimentellen, des "abstrakten" Films. Nyman war in den 60er und frühen 70er Jahren vorwiegend als Musikjournalist und Musikwissenschaftler tätig. Sein Buch "Experimental music. Cage and beyond" (New York : Schirmer Books1974) zeugt von dieser Phase seiner Arbeit, beschreibt sehr kenntnisreich die damals für die Avantgarde wichtigen ästhetischen Konzeptionen der neuen Musik aus USA und Europa und schließt sich auch den vom Zeitgeist her angesagten linken politischen Positionen in der aktuellen Kunst an. Erst ab Mitte der 70er Jahre beginnt Nymans kompositorische Arbeit zu dominieren. Bald gibt er Journalismus und Musikwissenschaft völlig auf und arbeitet ausschließlich als Komponist und Musiker, insbesondere nach der Gründung der "Michael Nyman Band". Seine recht intensiven Auseinandersetzungen mit Cage und den Minimalisten begründen sein kompositorisches Konzept: Als musiktechnische Basis fungiert das Prinzip der "repetitiven Musik", mit dem erklärten Trend zur Abkehr von der Subjektivität des Materials und der Individualität des Schaffensprozesses.

Beide haben dann nach 1980 gemeinsam die Wende zum narrativen Film vollzogen. Greenaway sah sich gegen Ende der 70er Jahre mit seinem bisherigen experimentellen Ansatz ästhetisch in einer Sackgasse angelangt. Wohl auch ökonomisch und künstlerisch, denn die Wende zum Spielfilm, zum Erzählkino brachte ihm mit DER KONTRAKT DES ZEICHNERS (THE DRAUGHTSMAN'S CONTRACT)1982 einen erheblichen Publikumserfolg, zugleich aber großen künstlerischen Ruhm, der ihn zu einem Hauptvertreter des "new english cinema" machte. Und auch Nyman brauchte sich über Nachfrage in den 80er Jahren nicht mehr zu beklagen, zumal seine "populistische", einfache Umgangsweise mit der Minimal Music auch über Schallplatten und CD's viele Liebhaber fand.

Nicht nur der erste "Spielfilm", auch die folgenden verraten stets ihre Herkunft aus der experimentellen Phase der Autoren. So etwa der Film VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN (DROWNING BY NUMBERS, 1988), dessen musikalisches Konzept im folgenden näher untersucht werden soll. Eine wichtige formale Handhabe aus früheren Avantgarde-Zeiten betreffen die "trivialen Erzählkonzepte", (z.B. in INTERVALS, 1969, oder in A WALK THROUGH AGE OR THE REINCARNATION OF AN ORNITHOLOGIST, 1978): Zählen, Zahlen, Serien und Folgen als triviale "Abläufe", fiktive Geschichten als Scheinmotivationen für das Filmgeschehen. Obskure Wetten und Spiele, manisches Sammeln und Ordnen von recht merkwürdig indizierten Dingen und Sachverhalten. Was bei den experimentellen Filmen selbstverständlich den Eindruck hoher Entsubjektivierung erzeugte, bekommt nun im "Spielfilm" eine besondere Qualität. Es wird scheinbar "nicht-trivial" erzählt, etwa in VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN die Geschichte der 3 Cissies, wie sie ihre Männer und ihren Freund ermorden. Andererseits laufen parallel und vielfältig verschränkt zahlreiche Spiele ab, auch solche, die über die gesamte Filmlänge vom Publikum "mitgespielt" werden können, sich aber meist nur als abstrakte Ordnungsmarken in die "nicht-triviale" Story einklinken. Selbst die Dialoge wirken oft wie die Aussagen von Spielfiguren, auch die Kostüme erinnern oft an solche. Darüber hinaus tauchen häufig biographische Momente Greenaways auf, fiktive (aus seinen früheren Produktionen) wie reale (aus seiner Familie, aus seiner Kindheit). Auch seine erste und immer wieder weiter entwickelte künstlerische Existenz als Maler gleitet ein in die Filme. In vielfältiger, oft kryptischer Weise spiegelt sich seine Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte und Werken der Malerei wieder, sei es daß Bilder im Dekor auftauchen mit deutlicher Beziehung zur "Story" (etwa Breughels "Kinderspiele" in Madgetts Haus in VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN) oder daß Filmfiguren Posen einnehmen, wie sie von berühmten Gemälden bekannt sind (so liegt der ertrunkene Harry im selben Film in einer ähnlichen perspektivischen Verzerrung wie der "Der tote Christus" von Mantegna). Selbst Kleidungen zitieren historische Kunstwerke: Skipping Girl (VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN ) spielt Seilhüpfen in einem Kleid, das die spanische Infantin in "Las Meninas" trägt, einem der rätselhaftesten Bilder von Velasquez. Es würde zu weit führen, auf alle die zahllosen kulturhistorischen Einsprengsel und Zitate bei diesem Film einzugehen, zumal ihr Auftreten meist auch noch besondere Hinweise oder symbolische Bezüge auf die umgebende Filmhandlung beinhaltet. Auch die anderen Spielfilme Greenaways strotzen nur so von einverleibten, mehr oder weniger gut erkennbaren Materialien der Kunstgeschichte.

Einige Mozart-Takte und die Musik zu VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN

Die "Handlung" der VERSCHWÖRUNG in Kürze: Cissie 1 ertränkt ihren untreuen Ehemann in der Badewanne. Madgett, ein befreundeter Leichenbeschauer, soll den Tod als harmlos bescheinigen, was er etwas widerwillig, jedoch mit der Hoffnung auf ein erotisches Entgegenkommen seiner Freundin Cissie tut. Cissie 2 (die Tochter von Cissie 1) ermordet ihren unbefriedigenden Ehemann im Meer. Schließlich wird auch der frisch angetraute, jedoch enttäuschende Ehemann von Cissie 3 (Nichte von Cissie 2, Enkeltochter von Cissie 1) gemeuchelt, sie läßt ihn als Nichtschwimmer in einem Schwimmbad untergehen. Hat er sich doch einer konspirativen Gruppe von Verwandten und Freunden der Mordopfer angeschlossen, die versucht, Madgetts Totenscheine anzuzweifeln und die ominösen Tode der Ehemänner aufzuklären. Jeweils muß nämlich Madgett den Tod bescheinigen; immer wird ihm eine erotische Gegengabe verweigert, obwohl er es bei allen drei Frauen versucht. Am Ende bringen die Cissies ihren Freund und Leichenbeschauer auch noch um, indem sie ihn mit einem Boot (die Zahl 100 am Bug signalisiert das Ende des Film-Spiels!) als Nichtschwimmer untergehen lassen.

Zwischendurch gibt es zahlreiche Spiele - Madgett ist der Meister der Spielregeln - in oft prächtig mit Bildern, Gegenständen, Tieren und Personen angefüllten Szenerien. Smuts, Madgetts Sohn, zählt unermüdlich - etwa die Haare eines Pudels oder die Blätter eines großen Baums -, er spielt absurde Spiele (etwa vom "Schloß der Träume"), er sammelt unfalltote Tierkadaver, markiert und beziffert die Fundstellen - das "Große Todesspiel". Alle zusammen spielen im ersten Teil des Films das Spiel "Fang oder stirb! ", wobei die Männer in der Reihenfolge ihres künftigen Todes ausscheiden und die Frauen gewinnen.
Greenaways Wende in das Erzählkino bleibt, wie man sieht, äußerst ambivalent. Immer wieder brechen Aspekte des "art cinema" durch, werden Reflexe experimenteller Verfahren deutlich, die sogar den Charakter des narrativen Films hintergründig in Frage stellen. In DROWNING BY NUMBERS (Originaltitel von VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN) verweist bereits der Titel auf die Form des Spiels, das den Film durchsetzt. Nicht Spiel als ein Element der Geschichte, die der Film erzählt, sondern Spiel als die dramaturgische Grundkonzeption des Films, der seine Geschichte möglicherweise nur zum Schein erzählt. "Ertränken nach Nummern" erinnert stark an den Ausdruck "Zeichnen nach Zahlen" ("painting by numbers"). Zahlen, Zählen, Ordnungen, Nummern finden sich in diesem Film überall, in den Bildern, im Dialog, in den Handlungen der Personen - vielleicht auch in der Musik (dazu später). Eine narrative Spur des Films wird schlicht durch die Zahlenfolge 1 bis 100 beschritten. Derartige "triviale Geschichten" tauchen häufig in Greenaway-Filmen auf, entweder als Abfolge von geordneten Sachverhalten (THE FALLS), als Alphabet (in ZOO), als Zahlenfolge wie hier in VERSCHWÖRUNG - Greenaway weist daraufhin, daß sie Anfang, Mitte und Ende haben und damit durchaus dramaturgische Orientierungsfunktionen ausüben. Exemplarisch für die Zahl der Sterne zählt und benennt zu Beginn (und später wieder an wichtigen Zäsurstellen der Filmhandlung) das Skipping Girl hundert Sterne und bezeichnet sie mit Namen, richtigen Sternennamen, aber auch Namen von anderen Künstlern, von realen Freunden, Tieren und fiktiven Personen, gar solchen aus Greenaways Filmen. Im Verlauf des Filmes tauchen dann nacheinander alle Zahlen von 1 bis 100 in linearer Folge auf, im Bild oder im Dialog an den unterschiedlichsten Stellen irgendwo aufgemalt, angebracht oder gesprochen. Für den Zuschauer, sobald er diese "Teilgeschichte" bemerkt hat, wird es zum Spiel, die Zahlen zu suchen und zu finden. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Spiele, nicht zuletzt das jeweils liebevoll inszenierte Ersäufen der Ehemänner der drei Cissies.
Spiele stehen gerade in den "Spielfilmen" für den autoreflexiven Zugriff, für die Auseinandersetzung mit dem Medium und seinen Konventionen. Zugleich ein deutlicher Hinweis auf den Märchencharakter des Films. Das Publikum solle merken, daß es einen "Film" und nicht durch ein Fenster auf die Welt sieht, betont Greenaway.
"Meine Haltung zur Musik ist sehr stark von John Cage und vom Minimalismus geprägt, und ich habe es mir angewöhnt, Musik nicht linear zu hören. Ich atomisiere sozusagen. Heute würde man wohl sagen, ich höre "Sound-Schnipsel". Ich achte nicht auf den symbolischen, durchgehenden Prozeß, auf die Entwicklung, sondern auf kleine Phrasen und Fragmente, die so schön sind, daß ich sie besitzen und zu einem eigenen Stück umformen möchte. Manchmal mache ich das auch, baue etwas auf diesen magischen kleinen Wendungen und Drehungen auf. Meiner Meinung nach findet man davon bei Mozart mehr als bei jedem anderen Komponisten. Es gibt einige bei Händel, ein oder zwei bei Monteverdi, ein paar bei Haydn, ein paar bei Purcell. Aber bei Mozart wimmelt es nur so von diesen Details, vier Akkorde, vier Takte, kleine Stückchen absoluten Genies...". (Nyman)
Anders als sonst kam es vor Drehbeginn bei der Arbeit an VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN nicht zu einer gemeinsamen Konzpetionsdiskussion zwischen Nyman und Greenaway. Erst nach Abschluß der Dreharbeiten stieß Nyman hinzu, während der Schnittphase. Greenaway gab ihm das Material vor, nämlich den 2. Satz aus Mozarts Sinfonia Concertante in Es für Violine, Viola und Orchester, KV 364, darunter insbesondere die Takte 58-61, ein bewährtes Fundstückchen "absoluten Genies", ein Rückgriff in die Geschichte ihrer langjährigen Zusammenarbeit. Bereits mehrere Male hatten sich sowohl Greenaway wie Nyman mit diesem Stück auseinandergesetzt. Sogar bis auf Cage läßt sich die Geschichte der DROWNING-Musik zurückverfolgen. Für den dreistündigen Film THE FALLS (1980) bekam Greenaway die wesentlichen strukturellen Anregungen von John Cages Schallplatten-Lesung "Indeterminacy" (1958). Cage erzählt hier 90 Geschichten, jede ca. 1 Minute lang. Auch Greenaway erzählt kleine (Film-)Geschichten, hat sich allerdings verzählt - behauptet er etwas hintergründig - und kommt daher zu 92 Kurzbiographien. Greenaways und Nymans musikalische Idee hierfür war, aus den Takten 58-61 des 2. Satzes von Mozarts Sinfonia Concertante (KV 364) die Zwischentitelmusiken für die Kurzbiographien zu entwickeln.
Im originalen Zusammenhang des 2. Satzes handelt es sich bei diesen Takten um die Schlußkadenz der Exposition, also eine schon im Original recht gering subjektivierte, eher einer formalen Alltagsnorm entsprechenden Musikstrecke. In Nymans Werk gibt es noch eine Reihe weiterer "Auswertungen" dieses Materials.
Mozarts vier Takte lauten folgendermaßen:

  

Und so beschreibt Nyman die Art und Weise seines Herangehens:

"Man nimmt einen Klumpen musikalischen Materials, untersucht es, nimmt es auseinander, stellt fest, welches Potential vorhanden ist, gießt ein bißchen Säure darüber, mischt es mit ein paar anderen Chemikalien und beobachtet, was passiert. Eine richtige Entdeckungsreise."

Vielleicht klingt dies etwas aufregender, als in dürren fachsprachlichen Begriffen beschrieben. Aber zumindest die beim "Entsubjektivieren" wirksamen Gefühle kommen gut zum Ausdruck. Die Soundtrack-CD weist 13 dieser Laborexperimente aus. Wahrscheinlich gab es noch mehr davon. Im Film finden sich allerdings nicht einmal alle 13 dann wieder. Leider auch mit einer für die Greenaway-Nyman-Filme ungewöhnlich geringen Präsenz. Meist wird die Musik bald nach ihrem Einsatz stark zurückgepegelt, rutscht stärker in den Hintergrund der Wahrnehmung als sonst, tendiert eher zu konventioneller Stimmungsgrundierung als zu aktiver Interferenz.
Bereits der erste Musikeinsatz zeugt vom strukturellen Kalkül: Als Skipping Girl den Stern Nr. 58 nennt - er heißt "Procis" (in der deutschen Fassung "Cressida") - schleicht sich die erste Musik ein ("Trysting fields" heißt sie auf der Soundtrack-CD). Sicher kein Zufall: 58 ist die Nummer des Taktes, an dem die berühmten 4 Mozart-Takte beginnen - falls wirklich so beabsichtigt, sicherlich nur ein recht äußerliches symbolisch-strukturelles Mätzchen.
Nymans Methode des musikalischen Trüffelsuchens und Herrichtens für eine neue Verwendung, das Zuschneiden und Collagieren des Mozart-Materials - hier darf er den gesamten Satz nach geeigneten "Sound-Schnipseln" sondieren - läßt sich an den soggenannten "Trysting fields" gut verfolgen, Nyman nennt sein Verfahren "music listing".
Im Prozeß der "Entsubjektivierung" spielt das Herauslösen kleiner Fragmente aus seinem originalen Zusammenhang eine zentrale Rolle. Die Fragmente werden durch repetitive Verfahren zu einheitlichen Klangstrecken zusammengefügt, unterschiedlich weit von dem Ausgangsmaterial entfernt. In VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN gibt es mehrere Grade der Entfernung. "Trysting fields" steht für eine recht mozartnahe Ableitung, sie erinnert noch stark an den Mozart-Tonfall und erst bei genauerem Zuhören machen sich die Fragmentierungs- und Repetitionsmaßnahmen bemerkbar.
Einige Takte Original und Verwandlung seien hier vorgestellt:

ORIGINAL (Mozart KV 364, 2. Satz, T.10-22)
 

 

VERWANDLUNG
    
 

Ein Spiel mit einem Klangbaukasten: Nicht einfach zufällig gegriffene Steine und Reihenfolgen, sondern durch die ständige Wiederholung der Bausteine vereinheitlicht im lokalen Bereich und durch das Kriterium der Kadenzorientierung auch in der perspektivischen Zusammenfügung der Bausteine auf deutliche, angenehm zu hörende Homogenisierung hinauslaufend. Wenn man so will, könnte der Mozart-Duft, den die neu gefügten Trümmer immer noch ausströmen, so etwas wie eine autoreflexive Maßnahme im musikalischen Material der Filmmusik darstellen - Metamusik. Aber das will Nyman eigentlich nicht, die Originalreste sollen ihren alten Geist aufgeben, ihre Subjektivität verlieren und sich in neuen Konstellationen neu präsentieren. Nyman versteht seine Arbeit mit dem Mozart-Material als "Spiel", als ein abstraktes Vergnügen ohne konkreten Zweck. Als ideologisch ungewolltes Abfallprodukt stört der Mozart-Duft zwar die Behauptung der Entindividualisierung, vermittelt aber im musikdramaturgischen Gesamtkonzept wichtige Funktionsbestimmungen der unterschiedlichen Mozart-Verwandlungen in diesem Film. Die Nähe oder Entfernung zum Mozart-Original verleiht den musikalischen "Spielfiguren" durchaus eine spezifische Bedeutung, die über das rein musiktechnische, abstrakte Spielen mit Bausteinen hinausgeht.


Schöner sterben mit Mozart
Mit einer fast sakral wirkenden Inszenierung formt Greenaway den jeweiligen Nachhall der Männer-Morde über die auditive Schicht (dies hat er von vornherein gegenüber Nyman so festgelegt): Stets erklingt im Anschluß an einen Mord der originale Mozart-Satz. Nachdenkliche Trauer strömt von Mozarts sanften Linien hinein in die Gesichter der Mörderinnen, für Augenblicke scheint Wehmut und "nach"-sichtige Liebe aufzukommen. Stets aber bleibt der edle Trauersatz Fragment, wird durch eine folgende Sequenz abgebrochen. Erst am Ende des Films ereignet sich der elegische Höhepunkt. Zu den Schluß-Sequenzen des Films, nach dem Selbstmord Smuts (als Konsequenz des Spiels "Endgame") erklingt in voller Länge der gesamte 2. Satz der Mozart-Sinfonia, mit der Schlußkadenz und der ins Bild kommenden Zahl 100 (am Bug des mit Madgett untergehenden Boots) endet synchron der Film als eine große Elegie auf den Tod der Männer. Auch die Netten, Schüchternen, Naiven, Hilfsbereiten, Liebenswürdigen müssen sterben, nicht nur die unangenehmen Ehemänner.
Nur an diesen Stellen - an denen übrigens auch die Musik stark in den Vordergrund tritt - wirkt die trotz aller visuellen Üppigkeit kühle und ironisch-distanzierte Grundhaltung des Films mit Gefühlsintensität erfüllt - Momente von echter, melancholischer Trauer, schnell jedoch abgelöst durch die kühl-ironische Weiterführung der "Spiel"-Handlung. Nur bei dem Tod einer Person erklingt übrigens Mozart nicht: Es ist derjenige des Skipping Girls Elsie, das allerdings nicht durch einen Mord ums Leben kommt, sondern einen eher tragischen Unfall erleidet. Nur am Anfang der Sequenz ertönt Musik, wie eine dramaturgische Klammer bindet "Trysting fields" den bevorstehenden Tod von Elsie an den Anfang des Films. Hier muß eine Unschuldige sterben, durch die Unvorsichtigkeit der konspirativen Gruppe der "Verschwörer vom Wasserturm", die sich zur Jagd auf Madgett und die Cissies zusammengefunden haben.

Die Entfernung oder die Nähe zu Mozart in den verschiedenen Filmmusiken scheint im musikimmanenten, strukturellen Bereich die Zuspitzung der dramaturgischen Entwicklung zu reflektieren.
Zu den mozartnahen Musiken zählt insbesondere "Trysting fields", das von Anfang bis zum Abspann des Films eingesetzt wird (ca. 7 mal). Es erklingt erstmals (beginnend im Vorspann) während einer Sequenzfolge, in der zunächst das erste Opfer vorbeikommt, seine Mörderin auftaucht, zur Stätte ihrer Tat durch die nächtliche Landschaft geht und bis in die zunächst überhaupt nicht gefährlich scheinende Situation des betrunkenen, badenden Liebespaars reicht. Ganz offenkundig verfärbt sich die edle Grundstimmung der Musik über den Mord, sie wirkt distanzierend, archaisch, schicksalhaft.
Das wiederholt auftretende Auto im nächtlichen Wald, ein charakteristisches "Spielfeld" in diesem Film, bei den "Knutschfeldern" (vielleicht könnte man "Trysting fields", den Liebestreffpunkt, so übersetzen) bekommt stets eine Musikuntermalung, die entweder aus "Trysting fields" stammt, oder aus sehr ähnlichen "Endgame"-Teilen. Hier treffen sich Madgett, Smuts und die Cissies: Entweder sind alle drei Frauen dabei, oder jeweils eine von ihnen. Todesnähe scheint die unterschwellige Botschaft, denn auch strukturell schwankt die Musik zwischen der Mozartnähe des "Trysting fields"-Materials und Teilen von "Endgame" (dessen 2. Teil zunächst wörtlich dem Beginn von "Trysting fields" entspricht). In den Dialogen geht es hier immer um Sex und Tod: Madgett erhofft sich erotische Gegenleistungen wegen seiner gefälschten Totenscheine. Aber er wird sterben, die todbringenden Frauen sind ihm sehr nahe, zu nahe. Und sie halten ihn nur hin, sie wollen ihn nicht erhören, sondern ertränken. Das "Endspiel" bringt erst Smuts, dann aber Madgett den Tod. Bezeichnenderweise beendet die "Endgame"-Musik als Begleitung zum Abspann den Film letztendlich.
Während diese mozartnahen Musiken deutliche Bezüge zum bevorstehenden oder länger sich ankündigenden Tod enthalten, tummelt sich um viele der Nonsens-Spiele (wie "Höhenflüge der Phantasie", "Schloß der Träume", "Schafe und Gezeiten", "Bienen im Baum") herum der heitere, schnelle Minimalwalzer "Sheep and Tides" (aus der Baßlinie der Mozart-Kerntakte abgeleitet). Gerade im ersten Teil des Films häufen sich die heiteren Musiken (mehrfach "Sheep and Tides", auch der "Wheelbarrow Walk"), eine Wende scheint das im Ablauf zentrale Spiel (die Nummer 50 ist zu Anfang des langen Spiels übrigens unübersehbar präsentiert!) "Henkers Kricket" herbeizuführen. Hier sind sämtliche Personen des Films beteiligt, ein letztes Mal ertönt dazu "Sheep and Tides". Von nun an schieben sich die Gefahrsignale stärker in den Vordergrund der Handlung. "Spiele können sehr gefährlich sein", sagt kurz danach Madgett zu Cissie 1. Die "Verschwörer vom Wasserturm" machen sich deutlich drohender bemerkbar.
Vom ersten Auftreten der "Wasserturm"-Drohung (die Verschwörer treffen sich hier) und in Zusammenhang mit Smuts Belehrung "Die besten Tage für gewaltsame Tode sind die Dienstage!" erklingt die Musik des "Great Death Game", die beim zweiten Auftreten mit weiteren Todeskonnotationen aufgeladen wird: durch das Spiel "Fang oder stirb!", bei dem die Männer in der Reihenfolge ihres künftigen Todes nacheinander ausscheiden und sich auf ein in der Mitte liegendes ("Leichen"-)Tuch legen müssen. Die Frauen gewinnen mit leichter Hand und die Musik dazu - "Great Death Game" - bietet konstruktiv eine weitere Ableitung aus dem Mozart-Material. Sie entsteht aus der Verkettung von 2-Ton-Partikeln der Baßlinien, die aus den Kerntakten (T.58-61) wie aus einer formal ähnlichen Stelle (die Moll-Version dieser Takte in der Schlußgruppe des Satzes, T. 140ff.) gewonnen sind. Eine ernste, getragene, in der Dreier-Schrittfolge schicksalhaft wirkende Begleitmusik. Möglicherweise kann die Verkoppelung von Baßlinienpartikeln als eine musiktechnische Metapher für das Zusammenrotten der Madgett/Cissie-Gegner verstanden werden.
Nymans Methode der Ableitung seiner gesamten Filmmusik aus dem Mozart-Material macht durch die graduelle Abstufung affektiver Charakteristika, verbunden mit dem Eindruck einer größeren oder geringeren Nähe zu den Klängen Mozarts, den Versuch einer dramaturgischen Strukturierung. Feinheiten in der musikimmanenten Konstruktion, die ebenfalls auf Bedeutungen verweisen könnten, die sich aus dem Beziehungsnetz des "Spiel"-Films ergeben, erschließen sich aber gewiß nicht in der spontanen Filmwahrnehmung. Wohl verdichtet sich der Eindruck, daß das gesamte Material in bestimmter Weise zusammenhängt. Aber dabei dürfte weniger die tatsächliche Verwandtschaft den Grund bieten, als vielmehr die vereinheitlichende Wirkung der minimalistischen Konstruktionsmethoden. Daneben bleiben die traditionellen Wirkungen bei Nymans Methode des musikalischen Trüffelsuchens und Herrichtens für eine neue Verwendung bestimmter Musikeigenschaften - wie u.a. Tempo, Bewegung, Lage oder Geschlechtsmerkmale der repetitiven Klangmuster - fraglos erhalten, beeinflussen in gewohnter Weise den Gefühlsbackground der Wahrnehmung. So schwindet mit wachsender Entfernung zu Mozarts c-Moll-Andante in den "Derivaten" auch der Charakter einer melancholischen Elegie, wie er in den nahen Ableitungen (etwa bei "Trysting fields") noch stark zum Ausdruck kommt. Ein wirklich kontrapunktisches Verhältnis zwischen visueller Schicht, Handlungsprozeß und auditiver Schicht scheint durch Nymans Musiken indessen nicht einzutreten. Dabei spielt sicherlich die erstaunlich geringe Erinnerungsstärke dieser Bild-Musik-Koppelungen eine Rolle.
Verglichen mit Greenaways komplexen Interferenzen zwischen seinen Filmsituationen und ihrem autoreflexiven Gehalt, bringt Nyman dagegen den großen, räumlichen Erinnerungssound an Mozart ein, mehr oder weniger deutlich und nahe am Original, stets jedoch einfach zu rezipieren. Sicher kann nicht immer die jeweilige Strukturentscheidung in der Auseinandersetzung mit dem Original bestimmt werden, aber die Musik tönt verläßlich angenehm in den Ohren.

Versatzstück oder tiefere Bedeutung? - "Fish Beach" und das Liebespaar im "Koch"
Eine besondere Rolle unter den Mozart-"Derivaten" spielt die Musik zu "Fish Beach". In VERSCHWÖRUNG DER FRAUEN taucht sie nur an einer Stelle gegen Ende des Films auf: Die 3 Cissies spazieren am Strand, mit Madgett und Smuts im Hintergrund. Nyman weist dieser Musik eine besondere Bedeutung zu: Sie symbolisiere - zusammen mit "Endgame" - die Solidarität der drei weiblichen Hauptfiguren. Immerhin, im Kontext der abstrakten, lediglich strukturorientierten Musikmaterialien, eine erstaunlich "gefühlvolle" Funktionsbeschreibung.
Nicht, daß "Fish Beach" sonderlich charakteristisch aus dem Musikgeschehen herausragt und unverwechselbar seinem visuellen Handlungsort anhaftet: Es ähnelt vielmehr in seiner Machart vielen Nyman-Musiken, könnte an vielen anderen Orten ohne Widerstand des Bildgeschehens eingesetzt werden, verschwindet ebenso leicht wie viele andere Musiken des Films aus der konkreten Zuordnungserinnerung.
Hier schmiegt sich die langsame, sanfte Musik ein in die Situation eines entspannten Spaziergangs, als ruhige Klang-Grundschicht für Dialoge und Bewegungen, ganz im traditionellen Verständnis von Filmmusik als gefühlsverstärkende Unterlegung.
Verschiedene strukturelle Aspekte des musikalischen Materials verweisen auf den von Nyman betonten Symbolcharakter: Der Dreiertakt - eine in diesem Film dominierende Metrik mit durchaus symbolischem Bezug zu der weiblichen Dreifaltigkeit der Protagonistinnen - und die satztechnisch verschränkten Schichten der Klang-Textur betonen die dichte Zusammengehörigkeit des Geschehens der Töne.
Wieder dient Mozarts Baßlinie (Takte 58-61) als grundlegendes Material. In der Führungsstimme ("Melodie") werden jeweils die beiden ersten Töne eines Taktes wiederholt und der dritte weggelassen. Dasselbe Material läuft auch im Baß des "Fish Beach"-Satzes, jedoch zeitlich augmentiert. Als weitere Schichten fungieren die synchrone zweite Stimme der Baßlinie und ein später einsetzender, auf dem metrischen Puls verlaufender hoher Ton der Geigen. Soweit könnte man von gewissen Analogien zwischen musikalischer Struktur und generellen Handlungsaspekten reden.

 
 
Wie bei fast allen musikunterlegten Sequenzen beginnt auch die Sequenz "Fish Beach" mit gleichzeitigem Musikstart. Besondere Synchronstellen zwischen musikalischem Zeitprofil und dem visuellen und verbalen Handlungsablauf (mit Ausnahme des Schlusses nur eine einzige Einstellung) sind scheinbar nicht beabsichtigt. Die 8-(bzw. 16-)Takte folgen bruchlos aufeinander, verändern stufenweise ihre Klangstruktur. Allenfalls an einer Stelle könnte eine Koinzidenz zwischen musikalischer Struktur und Ablauf des Dialogs bedeutungsvoll sein: Als Cissie 1 Madgett herbeiruft und ihn fragt, "Könntest Du ´ihn´ dreimal am Nachmittag hochkriegen?", setzt eine neue Periode mit dem hohen Viertelpuls der Violine ein.
Das Besondere der "Fish Beach"-Musik rührt jedoch daher, daß Greenaway und Nyman sie im nächsten gemeinsamen Film - DER KOCH, DER DIEB, SEINE FRAU UND IHR LIEBHABER (1989) - erneut einsetzen, sogar mehrfach (7mal). Warum? Sicher nicht, weil Nyman zu faul für eine neue Komposition war oder diese so außerordentlich gelungen und noch nicht ausreichend ausgewertet erschien. Das Zitieren eigener Produktionen, die Konstruktion einer fiktiven "Biographie" der eigenen Kunstfiguren, das Wiederaufgreifen alter Materialien ist bei Greenaway (und auch bei Nyman) ein durchaus übliches Verfahren - sicher auch, um eine eigene, fiktive, ironische "Kunstgeschichte" zu erzeugen, mit der Begleiterscheinung einer hintergründigen Verklärung der eigenen Kreationen. Sie bringen die ihnen anhaftenden Konnotationen mit, beeinflussen gerade auch mit ihrer Vergangenheit die Wahrnehmung der mit ihnen neu konstruierten "Geschichten". Allerdings wird sich dies dem normalen Kinobesucher nur bei einigen allzu deutlichen Maßnahmen erschließen, oft erfordert das Dechiffrieren und Anwenden des Erkannten in der Wahrnehmung doch ein erhebliches Maß an Kennerschaft Greenawayscher Produktionen und Marotten.
Was treibt die "Fish Beach"-Musik in den KOCH (identisch und ungekürzt übernommen aus der VERSCHWÖRUNG)? Vielleicht trägt der Versuch einer Antwort auch dazu bei, die originale Herkunftsstelle deutlicher zu verstehen.
Im KOCH tritt die "Fish Beach"-Musik erstmals in Erscheinung, als Georgina, die Frau, auf dem Weg zur Toilette Michael begegnet, dem künftigen Liebhaber. Im weiteren Verlauf des Films wird klar, daß die "Fish Beach"-Stellen zu dem Liebespaar gehören, die tiefe Übereinstimmung der beiden mit dem ruhigen, harmonischen Musikpuls spiegelnd und tragend.
Die erste Sequenz mit "Fish Beach": Wortlos und spannungsreich begegnen sich Georgina und Michael in der strahlend weißen Toilette, die Musik begleitet sie, pünktlich an einer Periodenzäsur erweitert sie die Klangfarbe, zugleich durchschreitet Georgina die Tür zum tiefrot gefärbten Gang (mittels perfekter "glue shots", verbindende Einstellungen, werden parallel Kamerafahrten quasi durch Wände hindurch simuliert), sie selbst hat plötzlich auch ein rotes Kostüm an (in der Toilette gerade eben war es noch weiß mit schwarzem Hut). Auch der Weg aus dem Gang in den Speisesaal geschieht an einer musikalischen Zäsur. Erst an Georginas Platz an der Tafel hat die Musik ihr Ende erreicht.
Auch die zweite Toilettensequenz wird von "Fish Beach" begleitet. Zunächst treffen sich die beiden wortlos Liebenden im Gang - noch tiefrot gefärbtes Kleid bei Georgina -, dann verschwinden sie schnell in einer Toilettenkabine, umschlingen sich heftig: die Musik bleibt in voller Ruhe dabei. Kurz vor der Kopulation endet sie (ihr VERSCHWÖRUNGs-Material ist abgelaufen); kurz darauf allerdings unterbricht ohnehin Spica jäh die erotische Atmosphäre auf der Suche nach seiner Frau Georgina.

Welche Gründe können Greenaway und Nyman bewogen haben, eine Musikstrecke aus der VERSCHWÖRUNG hier einzusetzen? Was dort die Solidarität der 3 Cissies spiegeln sollte, verweist hier möglicherweise auf die tiefe Solidarität der beiden Liebenden. Die ruhige, selbstverständliche Abgeklärtheit der verschränkten Mozart-Linien kommt dieser Gefühlstendenz sehr entgegen.
Möglicherweise sollte aber auch der Inhalt der Cissie-Strandgespräche eine Brücke in die neue Situation schlagen: Offen parlieren die Cissies über mögliche Sexualkontakte mit ihrem Freund und Leichenbeschauer Madgett. Georgina und Michael dagegen schweigen im KOCH, führen jedoch gerade das aus (oder wollen es ganz intensiv), was die Cissies und Madgett eher spielerisch-kokett vermeiden. Deren Beziehung endet tödlich. Nicht nur alle Ehemänner der Cissies werden von den Frauen um die Ecke gebracht, auch Madgett stirbt durch ihr Komplott in einem finalen Edelmord mit Mozartbegleitung. Weniger edel, sogar ganz schrecklich geschändet muß Michael sein Leben lassen, Georginas griechisch-tragödische Verzweiflung läßt sie den Leichnam gar als herrlich zubereitete Leckerei ihrem verhaßten Ehemann und Mörder ihres Freundes vorsetzen. Mit der Pistole zwingt sie ihn zum Essen, zum Kotzen.
Solidarität, Sexualität, unausweichlicher Tod: als hereingetragene Bedeutungspartikel aus dem alten Kontext könnte "Fish Beach" im KOCH mit dem akuten Filmgeschehen interferieren und es zu unterschwelligen Deutungstrends veranlassen. Allerdings: Die immer wieder zu beobachtende geringe Charakteristik der Nyman-Musiken verhindert möglicherweise auch das Erinnern, das Einschweben von alten Konnotationen in den Wahrnehmungsprozeß und es bleibt als Wirkungskonzept lediglich die konventionelle Stimmungsproduktion dieser ruhigen Musiktapete und ihre Verkoppelung mit dem Prozeß der Liebenden. Der relativ häufige Gebrauch im KOCH prägt "Fish Beach" darüber hinaus als Leitmotiv aus. Für die folgenden Liebesszenen - in den Vorratsräumen an der Küchenperipherie - erklingt zwar einmal das "Memorial" (eine Todes- und Trauermusik, auch von seiner Entstehungsgeschichte her, und für viele Szenen im KOCH eingesetzt); zwei weitere Szenen haben keine Musik, dafür reden die beiden Liebenden erstmals miteinander in einem für Filmliebesszenen eher grotesken Dialog. Erst nach der Flucht von Georgina und Michael aus der Umgebung Spicas, unter dem reinigenden Wasserstrahl und anschließend im - braungetönten - Bücherlager, ist wiederum die Musik von "Fish Beach" in voller Länge hörbar, vermittelt den Eindruck einer sicheren Liebe an einem sicheren Ort.
Ein Buch verrät Spica den Fluchtort. Es enthält die Adresse des Bücherlagers (sie ist übrigens identisch mit Greenaways Geschäftsadresse!). Sein drohender Ruf "Hab sie!" ist noch zu hören, als die "Fish Beach"-Musik ein letztes Mal in voller Länge erklingt und die beiden Liebenden im Bücherlager umgibt, diesmal auch in gleicher Länge wie die unterlegte Sequenz. Dazu eine Erweiterung des Solidaritätsgefühls: Der Koch Richard, der die beiden schon immer gegen Spica unterstützt hatte, bringt das Essen an den Fluchtort und warnt sie vor dem rüden Gangster.
Die letzten drei "Fish Beach"-Einsätze bleiben fragmentarisch. Jedesmal werden sie durch Schnitt an verschiedenen Stellen abgebrochen, jeweils startet die Musik dann erneut von vorne. Es gelingt ihr kein voller Durchlauf mehr; so, als wolle sie andeuten, daß keine glückliche Lösung zu erwarten ist. Das letzte Fragment beendet Georgina mit dem letzten Satz an ihren toten Liebhaber: "Ich liebe dich!"
Vielleicht versucht diese Maßnahme des dreimaligen Abbruchs eine symbolische Aussage in der auditiven Schicht. Die Beziehung ist unwiederbringlich abgebrochen, Schnitte/Stiche haben sie beendet, diese tiefe, innige, solidarische und erotische Beziehung.
Was bleibt als Fazit? Nur für den Kenner kann u.U. die Interferenz zwischen dem Mozart-Derivat aus VERSCHWÖRUNG, seinen dort entwickelten Gefühlskonnotationen und den neuen Zusammenhängen im KOCH differenzierte Wahrnehmungen erzeugen. Und dies wohl auch erst bei analytischer Auseinandersetzung. Überhaupt Mozart. Ohne spezialisierte Kennerschaft, in der spontanen Erstbegegnung wirkt die Musik Nymans nur als passende Gefühlstapete und als konventionelles Leitmotiv-Requisit im auditiven Hintergrund der Liebesszenen. Nyman hätte wohl ohne Einbuße an Komplexität und Vielfalt in der Filmbotschaft auch eine aus dem Memorial-Repertoire stammende Figur für die Liebes-Musik zubereiten können. Wir hätten sie als eine seiner üblichen "Kostbarkeiten" für völlig adäquat gehalten.

Literaturhinweise (Stand 1993, s. o. Anfang):
* Christiane Barchfeld: Filming by numbers: Peter Greenaway. Ein Regisseur zwischen Experimentalkino und Erzählkino, Tübingen 1992
* Agnès Berthin-Scaillet: PG - Peter Greenaway: Fête et Défaite du Corps. L'Avant-Scène Cinéma, No. 417/418, Paris 1993
* John A. Bird: From artifice to artificer: the films of Peter Greenaway, London 1990
* Laura Denham: The films of Peter Greenaway, London 1993
* Peter Greenaway: Drowning by Numbers (Filmbuch), London 1988
* Peter Greenaway: Fear of Drowning by Numbers. Règles du Jeu (A commentary in one hundred parts of Drowning by Numbers), Paris 1988
* Guido Heldt: "... breaking the sequence down by beat": Michael Nymans Musik zu den Filmen von Peter Greenaway, in: Hans J. Wulff u.a. (Hg.): 2. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium Berlin 1989, Münster 1990
* Hans-Jörg Kapp: Musik, Zeit und anderes. Peter Greenaway und Michael Nyman, in: filmwärts Nr.21, Marburg 1991
* Steve Lake: Fußball, Tod und Mozart. Michael Nyman, in: Jazzthetik. Jahr 4. Nr.2, Münster 1990
* Thomas Meyer/Michael Nyman: Von der Struktur zur Musik, von der Musik zum Film - Ein Gespräch mit dem Komponisten Michael Nyman, in: Alfred Messerli u.a. (Hg.): Tonkörper. Die Umwertung des Tons im Film. Cinema 37, Basel/Frankfurt 1991
* Michael Nyman: Experimental music. Cage and beyond, New York 1974