SYNKOPEN-TÄNZE

Über Importe populärer Musik aus Amerika in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg

Fred Ritzel (Oldenburg 1999)

In diesem Beitrag geht es um eine epochale Wende in der Entwicklung von Tanzmusik und Schlager gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und in Deutschland, um eine regelrechte Welle von musikalischen Importen aus Nord- und Südamerika. Sie lösen ein Jahrhundert europäisch dominierter Tanzmusik ab und müssen als Vorboten der im 20. Jahrhundert nicht nur in Europa, sondern weltweit sich außerordentlich erfolgreich ausbreitenden afro-amerikanischen Popmusik und des Jazz gesehen werden. Walzer, Polka, Rheinländer, Galopp u. diverse Varianten dominieren zwar noch auf den Bällen und Tanzböden des Kaiserreichs, ihre Bedeutung als modische Gesellschaftstänze hat jedoch erheblich nachgelassen. Die neuen Töne aus Amerika bringen nicht nur neues rhythmisches Feuer, neue Bewegungsenergien für die Tänzermassen, neue Klänge und Melodien, sie bringen auch die Botschaft des lockeren american way of life aus der jungen, weltweit führenden Industriemacht (seit den 90er Jahren), das klingende Indiz für das Ende einer Epoche, in Deutschland das Ende der imperialen wilhelminischen Ära und ihrer politischen und kulturellen Charakteristik.
Bereits früher im 19. Jahrhundert hat es musikalische Importe aus der neuen Welt gegeben, das berühmteste Beispiel ist sicherlich die Habanera aus Bizets CARMEN, 1875 (deren Musik von Sebastian de Iradier stammt).

Recht glanzvoll kehrt mit ihr ein Relikt alter europäischer Tanzmusik aus der Neuen Welt zurück: Der nach Kuba verschlagene europäische Contredanse präsentiert sich nun - durch die kreolischen "Contradanzas" mit neuem afro-amerikanischen Leben erfüllt - als Tanz aus Havana, als "Habanera". Noch etwas früher konnte man in der Pariser Virtuosenszene um die Jahrhundertmitte aufregend rhythmisierte Salonstücke von Louis Moreau Gottschalk (1829-1869) hören, einem kreolischen Pianisten und Komponisten aus Louisiana. Berlioz, Théophile Gautier, Adolphe Adam u.a. äußern sich zustimmend zu seinem Spiel und seiner Musik. Einige seiner Begleitmuster zeugen von seiner Vertrautheit mit der kubanischen Tanzmusik, sie entsprechen in ihrem rhythmischen Zuschnitt recht genau der Habanera (und ähneln damit dem Cakewalk, dem Ragtime und dem Tango). Insbesondere die ,,kreolischen" Stücke Gottschalks schätzt man als Konzert-Bonbons (viele davon erscheinen bei Schott in Mainz, damals bereits international tätig).

Als wesentliche Voraussetzung für die umfangreiche internationale Verbreitung populärer Musik entstehen im 19. Jahrhundert neben den technologischen Neuerungen für Massenproduktion und Vertrieb musikalischer Waren auch die sich allmählich entfaltenden internationalen Regulierungen von Urheber- und Verlagsrechten. International tätige Verlage haben ein starkes Interesse an einem regen Verkehr für musikalischen Warenaustausch. (Als wesentliche Warenformen dienen damals in erster Linie Noten, Rechte und öffentliche Veranstaltungen.) Insbesondere funktioniert der musikalische Warentausch im kulturellen und ökonomischen Zusammenspiel der führenden Industriegroßmächte USA, England, Frankreich und Deutschland. Und er harmoniert auch recht gut mit gewissen politischen Strömungen der Zeit. Präsentationen von fremden Völkern und ihren Sitten und Gebräuchen auf dem Unterhaltungsmarkt passen gut in das Umfeld von Kolonialismus und weltumspannenden Handels. In den Weltausstellungen feiert der Westen sein Konzept der Weltbeherrschung. Neue Unterhaltungsangebote wie Zoologischer Garten und Zirkus entstehen im 19. Jahrhundert und sprechen ähnliche Gefühlsbereiche an; Music Halls, Variététheater, Tingeltangels unterschiedlicher Qualität bieten exotische Sensationen, und auch die Traditionen des Jahrmarkts modifizieren sich durch neue Angebote (song plugging mittels live model song slide-Vorführungen, Kinetophonograph u.a.).

Häufig ist dabei fremdartige Musik zu hören, authentisch fremde oder fremdartig ausstaffierte herkömmliche Musik. Eine recht gut dosierte, und daher auch in Europa hellhörig machende Mischung von neuen melodischen Wendungen und vor allem neuen, synkopierten Rhythmen mit europäischer Unterhaltungsmusik (Polka, Rheinländer, Marsch u.ä.) bietet die amerikanische Unterhaltungsmusik der reisenden Minstrel-Shows, der Musical Comedies und anderer Formen des öffentlichen Showgeschäfts.

Amerikanische Show-, Gesangs- und Tanzgruppen kommen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufiger auch nach Europa und finden ein interessiertes Publikum (etwa die schwarzen Fisk Jubilee Singers mit domestizierten Spirituals auf mehreren Europatourneen, 1880 u.a. auch bei Wilhelm I. in Potsdam).

Gleichwohl bleiben amerikanische Stücke und afro-amerikanische Stilmittel in jener Zeit noch exotische Ausnahme im populären Musikleben der Alten Welt. Wie auch in den USA selbst dominieren in den Veranstaltungen der besseren Kreisen die gewohnten europäischen Gesellschaftstänze (Walzer, Polka, Galopp, Quadrille u. ä.), in den einfacheren Kreisen gibt es ohnehin nur das traditionelle Angebot.

Dies ändert sich allmählich um die Jahrhundertwende. Mit enorm anwachsenden Stadtbevölkerungen verschieben sich die gewohnten sozialen Strukturen, der Lebensstandard steigt spürbar, es steht mehr Freizeit zur Verfügung und das Unterhaltungsbedürfnis entfaltet und differenziert sich. Unzählige Theater, Variétés, Tingeltangels, Music Halls und andere einschlägige Etablissements bedienen ein mehr oder weniger großes, sozial differenziertes Publikum. Es gibt Singspiele, Volksstücke, Possen, Operetten, Revuen, Sketche, bunte Programme aus diversen Einzelteilen mehr oder weniger überzeugend zusammengestrickt. Und jeweils viel Musik, mit zahlreichen Möglichkeiten zur Nachverwertung und Zusatzverdienst. "Neuestes, Allerneuestes" - so der Titel einer "Metropol-Revue" von Viktor Holländer und Julius Freund - muß präsentiert werden, um konkurrierende Unternehmungen auszustechen.

Noten und Schallplatten erlauben das Nachspielen dieser neuesten Musik, das Wiedererleben und Erinnern der neuen Show-Sensationen; sie ermöglichen allerdings auch - bis zu einem gewissen Grad - den Wunsch- oder Fluchttraum der weniger feinen Kreise, das Dabei-Sein der in größerer sozialer und ökonomischer Distanz Lebenden: Das Massenpublikum für den Musikmarkt beginnt sich zu formieren; in den Tanzgaststätten, Klavierzimmern, Tanzschulen, Tingeltangels der großen, bald auch der kleinen Städte und ländlichen Regionen macht sich der medial vermittelte, verkäufliche Abglanz der großen Show-Paläste der europäischen Zentren bemerkbar.

Die erste größere Welle kommerzieller US-Hits gelangt am Anfang der ,,gay (oder "naughty", auch "naive") nineties" via London und Paris nach Deutschland, und zwar recht schnell nach ihrem amerikanischen Erscheinen.

Dies gilt etwa für den freak of the year 1891 (wie Sigmund Spaeth den Titel charakterisiert; Vgl. Sigmund Spaeth: A History of Popular Music in America, New York 1948, S.258) Ta-ra-ra Boom de-ay!, der sofort in Deutschland von zahlreichen Komponisten unverfroren als eigenes Werk oder als Bearbeitung auf den Markt gebracht wird (u. a. von A. Rau als op. 30, von G. Herold als op. 256, als op. 118 von Ertl, aber auch von Karl Komzak jun., Schild, Thiele, Paul Lincke und C. M. Ziehrer). Die Melodie des Marschlieds (der eigentliche Autor ist unbekannt, ein deutsches Liederbuch wird als Quelle vermutet) hat sich bezeichnenderweise bis heute in der kollektiven Gedächtnistradition der deutschen Massenmusik gehalten, genauso übrigens wie die amerikanische Ballade Asleep in the deep (Petrie 1897, zu deutsch Seemannslos).

Doch hierbei handelt es sich um Stücke des üblichen Unterhaltungsmusikmarkts, wie er auch in Europa existiert. Noch weisen sie keine musikalischen Besonderheiten auf, die sie als spezielle amerikanische Botschaften hätte ausweisen können. Ihr besonderes Qualitätsmerkmal besteht allenfalls in ihrer Herkunft aus dem Land der modernen industriellen Führungsgroßmacht USA, verknüpft mit den Werbehinweisen auf dortige Erfolge. Als Beispiel dafür wäre etwa ein amerikanischer Millionen-Seller wie «After the Ball» (Harris, 1892) zu nennen, der mit über 5 Millionen verkauften Exemplaren in den Neunzigern aufwarten kann, auch auf dem europäischen Markt erscheint, mitsamt der Fama seines extraordinären Übersee-Erfolgs - und vielleicht gerade aus diesem Grund attraktiv.

Neues jedoch kommt insbesondere über den Import von Tänzen. Tanzen ist en vogue, und es fungiert auch als ein Mittel sozialer Distinktion. Die modernen amerikanische Import-Tänze um 1900 beanspruchen Modernität und Exklusivität. Anfeindungen - nicht nur aus den traditionellen öffentlichen Institutionen (Behörden, Vereine, Veranstalter etc.) - werden von den jungen Tanzexperten als unangemessene Reaktionen konservativer Kreise verstanden, die die Gegenwart noch nicht begreifen. Oder sie verachten Widerstände als ignorante Borniertheit der breiten Masse.

Obwohl die modernen Tänze oft auf eine durchaus unfeine Herkunft zurückblicken können, bemühen sich ihre Propagandisten um Klarstellung: sie zu tanzen sei etwas total Gesittetes, Anständiges, Ausweis von verfeinerter Lebensart. Es ist der Versuch der jeunesse dorée, der jungen Unterhaltungselite, sich deutlich abzusetzen, sowohl von der Kultur der älteren Generationen wie auch von den Unterhaltungsgepflogenheiten der unteren Schichten der Bevölkerung, sie wollen mondain sein, weltläufig. Das Tanzen der Kenner solle sich vom unverständigen "Schieben und Wackeln" des Pöbels, dem es sowohl an musikalischer als auch an tänzerischer Kompetenz fehle, deutlich unterscheiden.

Dies gilt nun nicht generell, aber doch im Prinzip für die meisten neuen Tänze aus Amerika. Tango aus Argentinien, Maxixe aus Brasilien, Cakewalk, Ragtime, die diversen Trots aus den USA: sie alle finden ihren Weg in die feinen Tanzzirkel der europäischen Großstädte, in die gutbürgerlichen Tanzsalons und die entstehenden feinen Tanzcafés (gerade im Zusammenhang mit dem Tango bilden sich in den Etablissements spezielle Tanzflächen!).

In erster Linie erreichen von den amerikanischen Importen die musikalisch und bewegungsmäßig einfacheren und den traditionellen deutschen Tänzen - wie Marsch, Polka oder Rheinländer - ähnlichen Tanzmusiken auch die breiteren Schichten der Tanzbegeisterten. So der Twostep, aus der Polka entstanden und ein entschieden vorwärts ausgeführter Tanz (im Gegensatz zu den vorherigen Rundtänzen der europäischen Tradition), und ab etwa 1909/10 der Onestep, eine weiter vereinfachte Art des Vorwärtstanzens.

Überhaupt läßt sich das Kriterium der "Vereinfachung" als eine charakteristische Eigenschaft neuer Massentänze feststellen, eine Indiz für das Kalkul der Marktgängigkeit von Novitäten. Während es bei den feineren Kreisen durchaus üblich ist, Tanzlehrer zur eigenen Vervollkommnung zu bemühen, muß die breite Masse der einfacheren Tänzer allein durch Abgucken und Nachmachen das neue Tanzen erlernen. Und dies ermöglichen die Schiebe- und Wackeltänze ohne große Probleme.

Für die Hörer, Tänzer und Musiker aus der Alten Welt zählen neben den ökonomischen Wundergerüchten und guter musikalischer Erfindung noch weitere Reizmomente:

Mit den amerikanischen Titeln in Europa, den in London und auf dem Kontinent erfolgreichen US-Stars jener Zeit, dem schon recht flüssig laufenden Musikgeschäft und dem gewachsenen Interesse der europäischen Konsumenten an amerikanischer Musik entwickelt sich eine Nachfragesituation, in die sich die in den USA gerade auch vom "weißen" Musikgeschäft ausgewerteten schwarzen Popmusikstile gut einfügen, zumal ihre exotischen Reizmomente in Europa besondere Wirksamkeit versprechen.

 

CAKEWALK UND RAGTIME

Nach der Sklavenbefreiung bieten sich zunehmend mehr schwarze Künstler auf dem Unterhaltungsmarkt an, bei den Minstrelshows, den Gesangs- und Tanzgruppen, den Road Shows und anderen Unterhaltungsangeboten.

Das amerikanische Unterhaltungsmusikgeschäft etabliert sich von den 90er Jahren an in der Tin Pan Alley in New York und bildet dabei auch einen Sektor mit schwarzer Unterhaltungskunst heraus. Die schwarze Minstrelsy wandelt sich allmählich zur Bühnen-Show, zur Revue, und schließlich zum Musical: 1896 gibt es das Negro Musical "Oriental America" am Broadway, noch ohne ein deutliche Handlung, aber nicht mehr nur mit Schwarzen als komische Figuren, sondern als ernst zu nehmende Bühnencharaktere. 1898 kommt es am Broadway zu zwei ersten Schwarzen-Musicals mit einem Handlungskonzept, zugleich mit ausgeprägtem selbstreferentiellen Bezug : "Clorindy - The origin of the Cake Walk" (Will Marion Cook/Paul Dunbar) und "A Trip to Coontown" (Robert Cole) . Als Urheber und Interpreten agieren hierbei ausschließlich Schwarze.

 

Gleichwohl dominieren im Musikgeschäft die weißen Künstler, selbst in den neuen afro-amerikanischen Tanz- und Musikformen wie Cakewalk und Ragtime. Cakewalk-Tanzen mit der Begleitung von Ragtime, vergleichbar einer stark synkopierten Form von Marsch-, Polka- und Rheinländer-Musik, kommt um die Jahrhundertwende schnell nach Europa. Einige der damals reussierenden Stücke haben sich noch bis heute in manchen Erinnerungssträngen gehalten.

Ein Beispiel dafür: "At A Georgia Campmeeting" von Kerry Mills aus dem Jahre 1897, von dem Komponisten und Verleger Mills quasi als Protest gegen die herrschende Unsitte der artifiziell-prätentiösen "Coon Songs" geschrieben. Mills, ein Weißer, hat mit diesem Stück den klassischen Cake Walk präsentiert, der Text beschreibt das parodistische Tanzspiel der Schwarzen (einen Wettkampf von Tanzpaaren um die Siegestrophäe eines Schokoladenkuchens) und die Reaktion auf das Spiel der Ragtime-Band. Das gelungene Stück hat den Cakewalk im weißen Musikgeschäft durchgesetzt, Showtänzer haben ihn dann zu einem aufsehenerregenden Tanz entwickelt und quasi als Gesellschaftstanz für eine Weile populär machen können.

 Spaeth, a.a.O., S. 284: "Mills... may be considered the creator of the cake-walk"

 Das Cover der Sheet-Ausgabe von Mills "At a Georgia Campmeeting" weist darauf hin, daß die Ragtime-artige Musik zum Tanzen gedacht ist, jedoch für recht verschiedene Tänze. Zunächst wird das Stück als "characteristic march" bezeichnet, aber es kann auch als Two-Step, Polka oder Cake Walk benutzt werden. Mit der Mehrfach-Funktion als Tanzmusik werben die meisten Tanzmusik-Ausgaben dieser Zeit, auch in Deutschland. Denn die 4/4-Tänze in der "Post-Polka-Ära" verfügen außer der häufigeren Synkopierung sonst kaum über neue und charakteristische musikalische Eigenschaften, die sie unterscheidbar gemacht hätten.

Ragtime (von Blasmusik, von der Salonkapelle oder vom Klavier ausgeführt) fungiert als musikalische Stütze für so unterschiedliche Tänze wie Two Step, Slow Drag, Cakewalk, Onestep, Turkey Trot, Grizzly Bear, Buck, Buck and Wing (beides Vorstufen zum spätere Tap Dance), aber auch Polka und Marsch. Ein eigener Ragtime-Tanz taucht 1903 auf, in Scott Joplins "The Rag-Time Dance", eine Art volkstümliches Tanztheater.

In einem der Texte darin wird genau unterschieden:

 

Let me see you do the rag-time dance,

Turn left and do the cakewalk prance,

Turn the other way and do the slow drag -

Now take your lady to the World's Fair

And do the rag-time dance.

Laß mich sehen, ob Du den Ragtime tanzen kannst.

Dreh' Dich nach links und führe den prance (hoher Beinwurf) des Cakewalk aus

und dreh' Dich nach der anderen Seite und tanze slow drag.

Dann nimm Deine Dame zur Weltausstellung

und tanze mit ihr Ragtime.

 

Nach Europa kommen derartige Tänze zunächst als Show-Bestandteile und Bühnentänze, tauchen also bei Veranstaltungen auf, in denen sich vor allem die besseren Kreise amüsieren. Von der Jahrhundertwende an entwickeln sie sich zu enormen Erfolgen, zumindest für die erste Dekade mit einem Höhepunkt im Jahr 1903.

Während bis 1897 die importierten US-Titel noch europäischen Zuschnitt aufweisen, bringt das Hofmeister-Handbuch für den Berichtszeitraum bis 1903 erstmals Cakewalks und Valses Boston, in Stilkopie auch von europäischen bzw. deutschen Autoren. Bis 1908 verstärkt sich deren Anteil erheblich. Fast könnte man sagen, daß dieser ,,afro-amerikanische" Teil des Musikangebots eine neue Selbstverständlichkeit im Verlags-Repertoire darstellt, so wie in der Live-Szene damals die Sparte "English Song And Dance" mit "Negerliedern" und "Negertänzen" angeboten wird.

Auch Franz Pazdíreks Universal-Handbuch der Musikliteratur (Wien 1904-1910) spiegelt diesen Trend, verweist sogar auf bei Hofmeister fehlende Stücke: Einer der bedeutendsten Rags des Schwarzen Scott Joplin, der Maple Leaf Rag, wird als in Deutschland käuflich annonciert, ebenfalls viele Titel von Hogan, Mills, Petrie, Thurban und diverse Cakewalk- und Ragtime-Alben.

Angebot und Nutzung der Noten muß im Zusammenhang des Erfolgs der neuen amerikanischen Tanzformen gesehen werden. Eine massenhafte Rezeption amerikanischer Tanzimporte setzt ein; nicht nur die etwas komplizierten Cakewalks, sondern auch die einfachen Tänze wie Two Step finden Interesse. Noch einfacher als der Two Step und entsprechend beliebt erweist sich um 1910 herum der One Step, der in Deutschland als Marschtanz und Schieber große Popularität erlangt. "Schiebe- und Wackeltänze" - von einigen regionalen Behörden gelegentlich wegen unsittlicher Aspekte verboten - haben um 1910 in Deutschland bei Jugendlichen großen Erfolg, es sind die ersten weit verbreiteten afro-amerikanischen Tänze, denn ihre Becken-Bewegungen und das Entlang-Schlurfen (shuffle) entstammen schwarzen Tanztraditionen.

Europa bietet noch nicht ganz die Vielfalt der amerikanischen Modetänze, doch gibt es immerhin neben Cakewalk, Twostep und Onestep vereinzelt auch den Turkey Trot, den Grizzly Bear und andere Tierimitationen.

In der breiteren europäischen Öffentlichkeit beeindruckt das Auftreten des Blasorchesters von John Philip Sousa (1854-1932) bei den Weltausstellungen 1899 und 1900 in Paris, wo er neben seinen mitreißenden Märschen (die in Deutschland noch heute gespielt werden!) auch den Rhythmus des amerikanischen Ragtime bekannt macht.

Und dies, obwohl Sousa die Ragtimes und Cakewalks nicht sonderlich mag und vor allem als Marschkomponist brilliert. Mit einer recht absurden Theorie - vielleicht um den schwarzen Background dieser Musik zu vernebeln - behauptet er, der Begriff Ragtime käme aus Indien; er habe den Rag zum ersten Mal auf der Weltausstellung in Chicago von indischen Musikern gehört, die eine "Raga" gespielt hätten.

Eine erstaunliche Aufnahme eines amerikanischen Tin Pan Alley-Cakewalks wird von deutschen Militärorchestern bereits 1900 vorgelegt. Sie heißt Negerständchen, ist ein Ragtime für Blasorchester von Arthur Pryor und wird (laut Plattentext) von der Kapelle des ,,Kaiser Alexander Garde-Grenadier-Regiments" unter der Leitung des Königlichen Musikdirektors Neumann aus Berlin gespielt, aufgenommen im Jahre 1900. Im Spezial-Platten-Verzeichnis beliebter Tänze der Deutschen Grammophon-AG vom März 1905 findet sich das fragliche Stück in einer eigenen Kategorie ,,Cakewalk", die wie selbstverständlich neben ,,Walzer", ,,Polonaise", ,,Polka" u. a. Standard-Gesellschaftstänzen des 19. Jahrhunderts aufgeführt wird. Vom Negerständchen (Arthur Pryor: A coon band contest) gibt es laut Hofmeister-Handbuch Bd. 12 (1898-1903) Arrangements in zahlreichen Besetzungsversionen, vom Hamburger Verlag Benjamin vertrieben. Die Deutsche Grammophon-AG bietet sogar noch eine zweite Einspielung an, von der Kapelle des ,,Westf. Pionier-Bat. No. 7" unter der Leitung des Kgl. Musikdirektors Alex Hubert, Köln-Deutz.

Obwohl die deutschen Tanzbezeichnungen es nicht immer deutlich machen: es kommen eine ganze Reihe amerikanischer Cakewalk-Ragtimes hier an und werden nachhaltig rezipiert. So geht es etwa mit Perman's Brooklyn Cake Walk (von T. W. Thurban, 1899): in der deutschen Cover-Version nennt er sich "Schatzerl, ich möchte gern ein Automobil" mit der Tanzbezeichung "Automobil Rheinländer". Etwas später, um 1908, verwandelt sich "Schatzerl" in "Schorschl": Als der Börsenspekulant Friedberg 1908 nach einer Pleite mit seiner Freundin zusammen im Automobil flieht, wird das Ereignis als Couplet nach der Melodie des "Brooklyn Cake Walk" vermarktet: "Schorschl, ach kauf mir doch ein Automobil" (Lotz, a.a.O., S.189).

Das formale Design entspricht der mehrgliedrigen Reprisen-Form des 19. Jahrhunderts: mehrere Perioden mit unterschiedlichem thematischen Material und einigen Wiederholungen, mit deutlichen Teilen zum Tanzen und zum Singen. Synkopierte Melodiephrasen verweisen auf die Ragtime-Basis der Musik.

Aus dem Jahr 1903 stammt ein weiterer US-Import-Cakewalk, der in Deutschland als Polka präsentiert wird, aber von seiner Synkopierung her ohne weiteres seinen Cakewalk-Ursprung verrät: "A wise old owl" (M: Theodore F. Morse, T: Edward Madden, 1903). "Lotte, du süße Maus", so klingt's in deutsch, wird ähnlich wie das "Schatzerl mit dem Automobil" ein Evergreen aus der Kaiserzeit - und ein Stein des Anstoßes für den "Kampf gegen die musikalische Schundliteratur", wie sie etwa der Lehrer Anton Penkert unter Zuhilfenahme bescheidener musikanalytischer Argumente vorträgt. Ihm mißfällt, daß die Beschreibung der Sehnsucht eines Liebenden seiner Meinung so unsäglich banal als Text wie als musikalische Begleitung formuliert wird (Anton Penkert: Das Gassenlied. Eine Kritik, Leipzig 1911, S.54).
Aufgrund der Veröffentlichungsdaten scheint es naheliegend, den Höhepunkt der Cakewalk-Begeisterung europaweit etwa um 1903 anzusetzen. In London gastiert 1903 die erste Cakewalk-Truppe (mit den renommierten schwarzen Tänzern Walker & Williams) in dem Musical "In Dahomey" (UA 1902 in New York). Der enorme Erfolg - das Stück läuft 7 Monate in London - löst vermutlich die europäische Cakewalk-Welle aus. Weitere amerikanische Cakewalk-Gruppen gastieren in Europa, darunter 1903 auch in Berlin.

 

Ein eher komisches Relikt aus dieser Zeit, das unzweideutig auf den Mode-Charakter des Cakewalk hinweist (sozusagen als eine intermediale Referenz), präsentiert das Filmchen CAKEWALK INFERNAL, das George Méliès, der französische Stummfilmpionier, ebenfalls 1903 gedreht hat und als exotisch-teuflische Angelegenheit seinem Filmpublikum präsentiert.

Und auch aus dem Jahr 1903 stammen zahlreiche Cakewalk-Kompositionen von deutschen Komponisten. Nachdem Léhar bereits 1902 in seine Operette DER RASTELBINDER einen Cakewalk einfügt, gelingt Paul Lincke 1903 ein recht passabler Erfolg mit dem Einzeltitel "Negers Geburtstag. Coon's Birthday", der in seinem musikalischen Zuschnitt den amerikanischen Vorlagen weitgehend entspricht, obgleich ihm keine sonderlich inspirierten Melodieerfindungen gelungen sind.

Weitere Beispiele gibt es u.a. von Jean Gilbert (Cakewalk aus Der Prinzregent, 1903), von R. Schrader (Der Cake-Walk oder Kuchentanz), von Otto Teich (Hänschen und Fränzchen. Amerikanischer Cake-Walk, op. 378), wie auch von dem bereits verstorbenen Josef Strauß, dessen Bearbeiter Ernst Reiterer aus Aktualitätsgründen einen Cakewalk in die posthume Kompilations-Operette Frühlingsluft (1903) hineinbastelt - führende Vertreter der Zunft also, die den neuen Trend wittern und sich bemühen, den Anschluß nicht zu verpassen.

Richard Vollstedt bietet 1903 mit dem "humoristischen Cake Walk" " Eine vergnügte Neger-Hochzeit, op. 215, eines der charakteristischen Beispiele für die wohlwollend-herablassende Verachtung schwarzer Musikkultur, wie sie im Zusammenhang kolonialistischer Arroganz in Deutschland häufig zu beobachten war. In diesem Stück singt "der Neger", allerdings nur auf "La-la-la" und "O No No No" und er lacht sein "Negerlachen" "Hi hi hi" chromatisch abwärts, dazu mit einer äußerst bescheiden erfundenen musikalischen Substanz, unterstützt von etwas deplazierten "Neger-Kastagnetten" - und all dies versteht Vollstedt als "humoristisch".

Debussy liegt 1907 mit seinem Golliwogg's cake walk durchaus im Trend, seine fantasievoll-groteske Version des populären Modells hält sich an das formale Schnittmuster und die besonderen idiomatischen Charakteristika (Cakewalk-Synkopenmuster). Und er nutzt die Chance, in einer höchst unfeierlichen Kontamination über Tristan-Zitate gleich seine Anti-Wagner-Haltung und seine "Kritik am metyphysischen Anspruch der deutschen Musik" (wie es Adorno nennt) in das Stück einzubauen. Anstoß für diese Komposition gibt Sousa, den Debussy 1903 hört und seine Cakewalks etwas ironisch bewundert. (Golliwogg nennt sich eine 1895 geschaffene und damals sehr beliebte Spielzeug-Negerpuppe.)

Nach 1910 kommt es einer Art Renaissance des Ragtime-Tanzens, vermutlich hervorgerufen durch den weltweiten Erfolg von Irving Berlins Alexander's Ragtime (Band). Ragtime als Tanztyp bleibt dann einige Jahre im deutschen Tanzrepertoire - der Cakewalk ist bereits weitgehend vergessen - , um Anfang der 20er Jahre allmählich zu verschwinden. Foxtrot, Shimmy und Charleston lösen ihn ab.

 (Postkarten vom Anfang des 20. Jahrhunderts, aus der Sammlung von Sabine Giesbrecht-Schutte)

Bevor ich zu den Südamerika-Importen komme, noch ein letzter nordamerikanischer Tanz, der allerdings nicht aus dem afro-amerikanischen Kontext stammt, sondern aus den feinen Kreisen der Neu-England-Staaten.

VALSE BOSTON

Die neue, elegante Art des langsamen Walzertanzens stellt eine deutliche Reaktion auf die lange Zeit des schnellen Walzerdrehens Wiener Provenienz dar. Entstanden in den 70er und 80er Jahren in den USA erreicht er um 1903 England und Frankreich, sozusagen in Konkurrenz zu den afro-amerikanischen Ragtime und Cakewalk. In London müht sich die "Keen Dancer's Society" um seine Verbreitung, sie nennt sich später Boston Club. Tanzlehrer beginnen etwa um 1907 mit dem Unterricht im Valse Boston. Um 1912 gibt es die ersten deutschen Boston Clubs u.a. in Berlin, Hamburg und Düsseldorf (Helmut Günther/Helmut Schäfer: Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Gesellschaftstanzes, Stuttgart 21975, S.235).

 

Wie auch die anderen modernen Tänze der Jahrhundertwende ist für den Boston im Unterschied zu den älteren Modetänzen des 19. Jahrhunderts charakteristisch, daß er - obwohl aus der Walzertradition kommend - als Vorwärtstanz fungiert (entstanden aus den Übergangsschritten beim Linksherum-Tanzen des Walzers). Das neue, moderne Tanzen nach vorne ist die zentrale stilistische Neuerung - ein sanftes, ruhiges Gleiten. Oft nutzt man noch in Ermangelung geeigneter Musiken den alten schnellen Walzer, auf dessen Musik der Boston ausgeführt wird (3 Schritte in 2 Takten als eine Einheit, daher eine langsamere Tanzbewegung), auch genannt Boston américain, Zögerwalzer, Valse Hésitation. Erst nach dem 1. Weltkrieg wird Boston stets nach den spezifischen langsameren Walzern, den Valses Boston getanzt.

Zeitgenössische Tanzfachleute erklären den Boston-Erfolg mit einem Wechsel in der Auffassung von "Grazie". Nicht mehr das frühere Drehen und Hopsen, sondern das ruhige Dahingleiten dominiere.

Berühmte Boston-Musiken kommen gar aus dem Bereich der Semi-Kunstmusik. So der Apachentanz von Jacques Offenbach oder der Valse Boston aus dem Ballett "Die Millionen des Harlekins" von Richard Drigo (1909).

TANGO

Von den Tänzen, die in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg aus Südamerika nach Europa kommen, hat sicherlich der Tango die größte Bedeutung erlangt. Selbst heute noch, nach fast 100 Jahren Tangogeschichte in Europa findet er als einziger Modetanz aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg Interesse und glühende Verehrung. Und als soziales Phänomen scheint er in den 80er und 90er Jahren zu seinen europäischen Anfängen zurückzukehren: er bewegt nicht die breite Masse, sondern findet Anklang in spezifischen Zirkeln bei Studenten, Intellektuellen, Bildungsbürgern, sozusagen im Selbstverwirklichungs- und Niveaumilieu (vgl. Gerhard  Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/New York 1992).

Seine argentinische Genese in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbart die Erfolgsgeschichte einer multikulturellen Symbiose vielfältiger Herkunft, jedoch unter Dominanz europäischer Unterhaltungsmusiktraditionen. Es entsteht eine spezifische Tanzmusikkultur der argentinischen Großstadtslums, mit charakteristischen Tanzformen, mitreißender Musik und eindrucksvollen Texten, zunächst im Lunfardo, der regionalen Gaunersprache, dann im südamerikanischen Spanisch.

Der Sprung nach Europa geschieht höchst prosaisch, als Nebenwirkung einer musikindustriellen Aktivität. Nach der Jahrhundertwende scheint sich in Argentinien ein Absatzmarkt für Schallplatten und Noten zu entwickeln, nicht zuletzt über den argentinischen Erfolg der Ragtime-Musik, die zum Cake Walk erklingt und interessanterweise aus Frankreich importiert wurde (Willy Olliver/Tomás Mooney, Begleittext zur Schallplatte "Jazz and Hot Dance in Argentina. Volume One",  HQ 2010).

(Tango-Postkarte um 1913, Sammlung von Sabine Giesbrecht-Schutte)

Junge bürgerliche Kreise begeistern sich für die aufwühlende Musik der Vorstädte, besuchen die Bordelle und Bars und fragen Musikwaren nach. Da entsprechende Technologien in Argentinien jedoch noch nicht ausreichend vorhanden sind, reisen argentinische Musiker um 1907 zwecks Schallplattenaufnahmen nach Paris. Paris war von jeher das kulturelle Mekka der argentinischen Bürgersehnsüchte und die merkwürdigen Tanz- und Musikkünste der Argentinier finden in Paris aufmerksame Ohren und plötzlich großes Interesse. Was diese Argentinier vorführen, entfacht eine regelrecht Mode in den feinen Kreise der Pariser Jugend. In den Lokalen entstehen spontan kleine Tanzflächen, die Tanzlehrer bemühen sich um die adäquaten Regeln, Wettbewerbe werden veranstaltet und recht schnell verbreitet sich in den nächsten Jahren die Tangomanie über Europa und von da aus auch nach Nordamerika (hier aber schon recht reduziert). Auch Rußland wird vom Tangofieber angesteckt.

Die Diffusion des Tangos aus den Aufnahmestudios heraus, über Tanzvorführungen, Tanzunterweisungen, das eigene Ausprobieren und Nachmachen in den Tanzlokalen, die Möglichkeiten des Platten- und Notenkaufs: Die Maschinerie der Musikindustrie läuft an und bringt auf verschiedenen Kanälen das richtige Angebot zum richtigen Zeitpunkt.

Der besondere musikalische Reiz entsteht wohl durch die raffinierte Mischung altbekannter Traditionen: Polka, das neapolitanische Tanzlied, die schon länger bekannte Habanera scheinen durch, werden gebrochen von einer intensiven, oft melancholischen, aber auch mit lustigen Wendungen ausgestatteten melodischen Struktur.

Die Spezifik des Tango manifestiert sich jedoch nicht so sehr in der Musik, sondern vielmehr im charakteristischen Tanzen. Musikalisch fällt es schwer, den frühen Tango von der Habanera, der Danza und anderen Musiken mit ähnlichen synkopischen Rhythmusmodellen zu unterscheiden.

Die europäische Tangowelle erreicht 1912/13 ihren Vorkriegs-Höhepunkt. In allen Metropolen herrscht die Tango-Mode, ein regelrechtes Merchandising etabliert sich rund um den Tango: Mode (Stoffe, Blusen, "jupes culottes" = Hosenrock, 1911 von Paul Poiret kreiert etc.), Farbe, Parfums, Gebrauchsgegenstände wie Bleistifte oder Postkarten, Events (Tangotee) u.v.a.; Tango wird umfassend vermarktet und ein wichtiges Symbol feiner Kultur (so verkehrt im Sommer ein "Tangozug" zwischen dem feinen Badeort Deauville und Paris). [vgl. Simon Collier u.a.: Tango. Mehr als nur ein Tanz, München 1995, S. 77]

Auch die deutschen Komponisten versuchen sich, so wie vorher mit den nordamerikanischen Tanztypen, nun mit dem "original argentinischen Tango": Walter Kollo bringt 1913 El Sabo für seine Posse "Wie einst im Mai", Richard Eilenberg Die Schönen von Santa Fé (topographisch etwas daneben geraten), beide als Tanznummern oder Charakterstücke ohne Text. Von Franz Léhar kommt um 1914 der Tango La Plata. In Jean Gilberts "Thalia-Tango" Ich tanz' so gern den Tango (aus der Posse "Die Tango-Prinzessin", 1913) zeigt sich die einsetzende Nivellierung des Musikmarkts, formal folgt das Stück dem Strophe-Refrain-Muster der üblichen populären Schlager. Es versagt sich die mehrperiodische Struktur des argentinischen Tango (wenigstens 3 Perioden mit verschiedenen thematischen Gestalten, meist auch mit Wechsel des Tongeschlechts). Hier bleibt das ganze Stück in der Dur-Grundtonart F. Ausschlaggebend für die musikalische Charakteristik "Tango" ist allein das Begleitmuster im Habanera-Rhythmus. Als weiteres Indiz für Rücksichten auf modische Unterhaltungsmusikbedürfnisse (oder vielleicht auch Gewohnheit bzw. Unvermögen) wären einige Stellen des Melodieverlaufs zu nennen, an denen recht affektiert akkordfremde Töne auf Takt-Schwerpunkten eingesetzt werden. So endet eine Textzeile auf dem damals nicht gerade üblichen Ruhepunkt einer großen Sept zum Tonikaakkord. Oder im Refrain eine ausgehaltene Spannungsnote auf der None der 2. Stufe, analog antwortet dieser Phrase an entsprechender Stelle die None zur Tonika. Und es gibt weitere ähnlich Beispiele von recht spitzfindigen Reiztönen, die den Anspruch erlesener Originalität etwas allzu auffällig vor sich her tragen. Der Text verweist in selbstreferentieller Hysterie auf seine aktuelle Erfolgsgeschichte:

 

Vers 1:

Einstmals man sein kleines Mädel packte auf zum frohen Walzertakt!

Die noch ältere Garnitur tanzte Polka nur!

Dann die letzte Sensation der Bälle war der Wackler guter Ton!

Fragst du heut' dein Mägdelein gesteht sie ein:

Vers 2:

Tangofieber alle hat ergriffen, selbst in finstern Felsenriffen,

jedes Land und jeder Stand ist aus Rand und Band!

Ob sie Lady oder ob Prinzessin, höh're Tochter oder Magd,

mag sie alt, mag jung sie sein gesteht sie ein:

Refrain:

Ich tanz' so gern, ich tanz' so gern den Tango,

man träumt so süß, man träumt so süß beim Tango!

Wie Rosen glühen purpurrot die Wangen, das Herz es springt vor Seligkeitsverlangen!

Ich tanz' so gern, ich tanz' so gern den Tango,

man träumt so süß, man träumt so süß beim Tango!

Wie Rosen glühen purpurrot die Wangen,

bei dem Tanz, bei dem Tanz, bei dem Tango Tango Tangotanz!


Auffällig, daß dieser Tango das Tango-Tanzen in einer Weise thematisiert, als sei er die eigentliche Sensation der Gegenwart, als eine moderne, neue Angelegenheit, dazu offenbar gesellschaftliche Schranken überschreitend, eine klassenlose Unterhaltung: Vielleicht ein frommer Wunsch der Macher, daß ihr Publikum im Unterhaltungs-Theater diese Aussage als unwahrscheinliche Perspektive bestaunt. In der Realität bleibt es bei der säuberlichen Distinktion von feinen und weniger feinen Nutzern der modernen Unterhaltung.

Gilberts Tango fällt nicht heraus aus dem Standard, andere deutsche Tangobotschaften lauten ähnlich:

Etwa von Hugo Hirsch (Text und Musik), 1914: Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein:

 

Vers 1

Der Tanz in frühern Zeiten,

das läßt sich nicht bestreiten,

war wirklich etwas nüchtern,

man war da noch zu schüchtern.

In Menuett, Gavotten,

im Walzertakt, im flotten,

selbst wenn man Polka hopste,

das Menschenkind sich mopste.

Beim Cakewalktanz der Neger

war schon die Stimmung reger.

Man kam auf seine Kosten

Beim Twostep und beim Boston.

Doch noch bedeutend lieber

da wackelte man Schieber,

bis daß expreß der Tango kam

und uns in Fesseln nahm.

Vers 2

Es blüht im Tanzgewimmel

Berlin der Tangofimmel.

Auf deinen Bummelreisen

hörst du nur Tangoweisen.

Auf allen Straßen, Wegen

grüßt ein Plakat entgegen,

wo Tango wird empfohlen -

Es ist zum Teufel holen.

Zu Haus jedoch nicht minder

tanzt Tango Frau und Kinder.

Du siehst selbst hinterm Ofen

Großmuttern Tango schwofen.

Dir brummt wie eine Hummel

der Kopf im Tangorummel,

bis daß als Kluger nach du gibst

und selbst Tango schiebst.

Vers 3

Seit Tango uns bekannt ist,

Berlin ganz plümerant ist.

Es wird der Großberliner

zum Tangoargentiner.

Selbst dort, wo Tempelhof ist,

der Tango jetzt sehr schwof ist.

Der Tango ist mal heute

der Tanz für bess´re Leute.

Tanzt Schieber Donna Rieke,

ruft Senor Ede: "Stieke".

"Paß uff und häng´ dir, Kleene,

man in die Tangobeene."

Bald kann man beide sehen

sich argentinisch drehen;

auf Tango hat der Ede Mumm

für´n Groschen einmal rum.

                Refrain:

                Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein,

                beim Tango, da tanzt man in ihr Herz hinein.

                Im Tango, da kann man selig sein zu zwei´n.

                Auf Tango, auf Tango fällt jeder sicher rein.

 

Er handelt von denselben Botschaften, wie sie auch Gilberts Lied propagiert, nur daß vielleicht die erotische Komponente eine etwas stärkere Betonung findet. Und es gibt einen interessanten Hinweis auf die Konkurrenz der modernen Tänze, denn Tango sei den etwa gleichzeitigen Bostons, Cakewalks, Two Steps und Schiebern überlegen an Aktualität und Qualität.

Seine Komplexität und Differenziertheit der Tanzbewegungen betont die Exklusivität des Tango, unterstreicht seine besondere Fähigkeit, soziale und kulturelle Distinktion zu demonstrieren. Ein charakteristischer Bericht über eub Tangotanzpaar von K. Schwabe mit dem Titel "Tangorausch" (aus dem "Kunstwart" von 1914) lautet:

Tango hat nicht nur die Komponisten der populären Musik, der Unterhaltungsmusik beeinflußt, auch einige Vertreter der Kunstmusik begeistern sich für die Rhythmen aus Südamerika. Nicht nur Bizet findet Gefallen an der Habanera, 1892 schon gibt es einen Tango von Isaac Albeniz (noch heute wird er von Tangoorchestern gespielt!). Auch Ravel komponiert einschlägige Beispiele, wie die Habanera Sites auriculaires (1895/96), die Vocalise-Étude en forme d'Habanera (1907) und aus dem gleichen Jahr die Nr.3 Habanera aus der "Rhapsodie espagnole" (1907). Sicher kein Zufall, daß gerade zum Zeitpunkt der anlaufenden Tangowelle diese charakteristischen südamerikanischen Rhythmen Interesse erwecken. Ähnliche Stücke wären von Debussy zu nennen, auch Erik Satie hat mitgehalten mit seinem Le Tango (perpetuel), aus "Sports et Divertissements" (1914). Interessant ist zweierlei: einmal stammen diese Beispiel alle aus der europäischen Filiale Argentiniens, aus Frankreich, zum anderen liegen sie durchaus zeitlich parallel zur populären Tangobegeisterung ihrer feinen Referenzkreise, die Komponisten unterstreichen ihre Aktualität. Zeitgleiche Kunstmusik-Tangos aus Deutschland sind mir nicht bekannt. Erst in den 20er Jahren öffnen in Deutschland die jungen Komponisten ihre Ohren in nicht-akademischer Richtung und verarbeiten recht begeistert das neue Potential an interessanter Tanzmusik aus der Neuen Welt.

Tango hat möglicherweise seinen Erfolg daraus gezogen, daß er neue Formen des öffentlichen Ausdrucks von privatem Leiden, von erotisierter Kommunikation, von öffentlich formulierbarer Leidenschaft ermöglicht hat.

Der Wechsel aus den großstädtisch-proletarischen Hafenbezirken von Buenos Aires in die feinen, international ausgerichteten Kreise der europäischen Gesellschaft (dies strahlte übrigens nach Argentinien zurück) scheint komplementär zu den bürgerlichen Umgangsformen ein zwar symbolisches, aber doch von starken Gefühlen getragenes Ausleben erweiterter sinnlicher Genußbereiche darzustellen.

Allerdings ist daraufhin zu weisen, daß der frühe Tango, auch in Europa, noch nicht derart stark melancholisch, traurig und beherrscht-klagend ausgeführt wird, wie später in den 20er und 30er Jahren. [vgl. Fred Ritzel: "Schöne Welt, du gingst in Fransen!": Auf der Suche nach dem authentischen deutschen Tango, in: Hoffmann, Bernd/Pape, Winfried/Rösing, Helmut (Hg.): Rock/Pop/Jazz im musikwissenschaftlichen Diskurs. Ausgewählte Beiträge zur Popularmusikforschung, Hamburg: ASPM 1992, S.43-60]

Auffallend ist die Tatsache, daß gerade in der Vorkriegszeit, die sich durchaus krisenhaft als solche bemerkbar macht, der Tango erfolgreich ist. Und dies gerade in Europa mit seiner Untergangsstimmung in Hinblick auf die noch herrschenden alten Regierungssysteme und deren Ideologien (Österreich, Rußland, Deutschland usw.). Den Tango tanzt vor allem die herrschende Klasse, noch nicht die Masse des Mittelstandes und schon gar nicht das Proletariat.

So läßt sich auch erklären, warum (falls es stimmt) offenbar in den USA der Tango keine besondere Rolle spielte. Vielleicht gab es dort nicht diese spezielle europäische gesellschaftliche Situation und Vergangenheitsbewältigung wie in der Alten Welt mit ihren im Tango aufgehobenen "alten Großgefühlen", nicht die in Europa spürbar fatalistische Grundstimmung. [z.B. äußert sich die New York Times, 1914 ironisch: "Von der Villa Montmorency aus eroberte der Tango Europa. Verschlungene Paare vollführten mit starren Schultern die langsame argentinische Promenade. Korpulente Herren schoben sich, im rechten Winkel zu ihren Partnerinnen, mit gleitenden Schritten dahin. Dann und wann hielten sie abrupt inne, hoben einen Fuß und inspizierten die Sohle, als wären sie gerade in etwas Schreckliches getreten.", zitiert nach Collier u.a., a.a.O., S.81]

Aus Südamerika kommen noch weitere Tänze nach Europa, jedoch nur mit kurzfristigem Erfolg. Am bekanntesten wird ein Vorläufer des brasilianischen Samba, die Maxixe, zeitlich etwa parallel, vielleicht sogar etwas früher als der Tango. Musikalisch stammt sie von der Habanera ab, ähnelt der Milonga (die gelegentlich auch als brasilianischer Tango bezeichnet wird), einer schnelleren, fröhlicheren Tangovariante, mit einem Wechsel vom Marsch -Pattern zu einem Synkopenpattern (Typ "Hey Mr. Banjo"), dazu gelegentlich synkopierte Melodiephrasen. Und so wird ein entsprechender Tanztitel, nämlich der 1913 in Deutschland präsentierte Estragadào (von Estéban Ricardo) als "Tango brazileiro" bezeichnet. Die besondere Synkopierung des Begleitmusters im dritten Teil dieses Tangos benutzt auch der junge Willy Rosen (1894-1944, gest. in Auschwitz) 1914 in seiner "Maxixe Brésilienne" "Tabarin" (vielleicht nach einem der neuen Berliner Tanzlokale benannt).

Gleichwohl gestaltet sich die europäische Rezeption der Maxixe etwas verwirrend, denn neben der eben beschriebenen brasilianischen Form mit Synkopierungen gibt es offenbar auch eine reine Marsch-Version. Als Beispiel dafür der Titel La Matchiche (Maxixe) von Charles Borel-Clerc, annonciert als "célèbre marche sur les motifs populaires espagnols" (wie von Mayol damals gesungen) - ein auch noch heute bekanntes Stück, allerdings im Stil der flotten spanischen Märsche und ohne afro-amerikanische Komponenten.

Diese frühe brasilianische Botschaft blieb nur vorübergehend bis zum Beginn des 1. Weltkriegs in Mode. Der nächste Versuch der Musikindustrie, den Samba in Europa zu etablieren, kommt in den späten 20er Jahren. Weitere lateinamerikanische Importe, insbesondere die Rumba, folgen dann schnell.

BEDEUTUNGSELEMENTE

Zusammenfassend seien einige Aspekte der neuen Tänze und ihrer Musik vom amerikanischen Kontinent akzentuiert.