Fred Ritzel (Oldenburg 1997)

Groteske Kontrapunktik: ein zartes, fast gehauchtes Liebeslied, dazu eine sich nähernde Mörderbande, die mit großer Knallerei in zeitgemäßer Comic-Brutalität abserviert wird, eine Schock-"Kadenz".

Das nächste Beispiel (aus: DIE FABELHAFTEN BAKER BOYS (R: Steves Kloves, US 1989/90; K: Michael Ballhaus; D: Michelle Pfeiffer, Jeff und Beau Bridges) formuliert differenzierter.

Hier wird nicht nur ein Lied ("More than you know" ; M: Vincent Youmans; T: William Rose, Edward Eliscu; 1929) vorgesungen, sondern die Art und Weise, wie dies filmsprachlich geschieht, bewegt mehrere Schichten der Handlung. Dabei gibt es nur einen verkürzten Durchlauf des Songs, nur eine Periode des Liedes, das aber als vollständig suggeriert wird (was aus Gründen der Filmökonomie recht häufig vorkommt).

Im nächsten Beispiel ("Making Whopee") erreicht die Beziehungs-Karriere der Susi im Hinblick auf ihren Partner Jack einen Höhepunkt mit einer filmästhetisch sehr herausgehobenen Inszenierung.

  1. Aus der Frosch-Perspektive des Pianisten/Dieners: Abtasten der Figur, gestische Hinweise auf die Deutung von "making whoopee"; dazu der erste Vers; der Text kann auf die private Situation der Sängerin in diesem neuen Job bezogen werden. Er enthält durchaus ambivalent auch die Aussage über eine neue Situation, wo unter neuen Umständen wieder "making whoopee" angesagt ist.

    Another bride (Bräutigam), another due (?)

    another sunday, honeymoon

    another season, another reason

    for making whoopee!

     

  2. Eine langsame, vollständige 360-Grad-Umkreisung Susis durch die Kamera erfolgt während des 2. Verses; sie besetzt das Zentrum, durch die kreisende Kamera bleibt auch das Saalpublikum peripher, außerhalb des Bannkreises dieser intimen Botschaft von Susi an Jack. Ein Botschaft wohl auch mit einer souveränen Feststellung: bei "he´s so willing" sieht sie ihn lächelnd an.
  1. Während der Bridge (Mittelteil): eine direkte, intime Ansprache Susis für ihren Partner, aus ihrer erhöhten Position herunter zu ihm; sie ist umgeben von einem weißen Gegenlichtschein - eine überirdische Erscheinung; zugleich beginnt eine 2. langsame Umkreisung des Flügels. Nach Schilderung einer Text-Idylle streichelt sie ihn, er lächelt, sie dreht sich um und erzählt dem Publikum die realere Perspektive, "Think what a year can bring" (3. Vers; langsame Umkreisung geht weiter): er arbeitet nun im Haushalt, muß Windelwaschen u.a..m."- but don´t forget, folks, that´s what you get, folks, for making whoopee!"

In diesem Film erhält das Publikum kaum dramaturgisches Gewicht, es bleibt meist im Halbdunkel. Die Schwierigkeiten des Duos mit seiner Sängerin bewegen die Handlung voran und prägen, jeweils spezifisch, die Folge der Musikauftritte. Dichte Beziehungen bestehen zwischen der filmsprachlichen Formulierung, dem Charakter und den Texten der Songs und dem psychischen Prozess der Beziehungen.

 

Ganz anders werden in den folgenden Filmbeispielen die Parts des Publikums ausgestaltet. In dem Film THE COMMITMENTS ( Irland 1991, R: Alan Parker, M: div. Soulmusiken, B: nach dem Roman von Roddy Doyle, D: Andrew Strong, Maria Doyle, Angeline Ball, Branagh Gallagher u.a.) verkörpert das Publikum die permanente Resonanz- und Projektionsfläche der Commitments, dieser "härtesten Arbeiterband der Welt", wie ihr junger arbeitsloser Selfmade-Manager und Debutant in diesem Job sie annonciert. Abgesehen von ihrer zumeist geliehenen schwarzen Kleidung: Sie gehören zur gleichen sozialen Schicht, zum gleichen kulturellen Kontext wie ihr Publikum. Und dieses bejubelt, was die Band in ihren Allmachtsträumen als unaufhaltsame Musikerkarriere glaubt zu verkörpern. Der Alltag dieser jungen, fast ausnahmslos arbeitslosen Musiker in Dublin und ihrer Umgebung wird von dem Film in hohem Tempo, in skurril wechselnden Montageformen und witzigen Kollisionen präsentiert. Auf der Bühne stehen dieselben Leute wie im Publikum, das nicht nur als Modell für das Kinopublikum fungiert, sondern einen dramaturgisch aktiven Part hat.

  1. Es gibt eine Dramaturgie der "Aufmerksamkeit", wobei die Haltung des Publikums in hohem Maße Spannung, Intensität, Betroffenheit zum Ausdruck bringt: der Anfangsschwenk etwa folgt der Blickrichtung des Publikums, das gebannt auf den Ort starrt, auf den hin die Kamera langsam zufährt; den Ort der Entstehung der wunderbaren Töne des Gesangs. Dann gibt es durch Großaufnahme herausgehobene Gesichter - von Benedikt, Alexandra, Margret, Porpora, Händel, Ricardo -, die im Wechselspiel mit Farinelli und seinem Singen eine äußerst intensive Beteiligung am Geschehen zeigen.
  2. Unterstützt wird die Präsentation der Musik durch eine recht charakteristische Handhabung der Schnitte. Zum einen folgen sie sängerischen Zäsuren und Artikulationen, akzentuieren Phrasen der Melodie - dies stärker im ersten Teil der Arie, weniger stark dann im Dacapo-Teil. Oft geschieht dies quasi im Atemrhythmus. Beim Höhepunkt-"C" des Dacapo-Teils, dem Gipfelton von Farinellis intensiver Verzweiflungsklage und emotionalen Dolchstoß in Händels Herz, häufen sich die Schnitte, jedoch unregelmäßig aufeinander folgend, parallel zum Innehalten des musikalischen Pulses während dieser Fermate.
  3. Eine weitere Unterstützung des musikalischen Geschehens erfolgt durch synchrone inhaltliche Maßnahmen der visuellen Schicht: Die Bewegungen des Pfaus im Hintergrund der Bühne etwa korrespondieren als Bewegungsmoment mit dem langsamen Fluß des Mittelteils der Arie, zeigen die Diskrepanz zwischen öffentlicher Männlichkeit - so präsentiert sich der Pfau als Symbol - und dem Klagegesang des verzweifelten Kastraten an das Publikum: "der Schmerz soll die Fesseln meiner Qualen brechen allein durch Barmherzigkeit!"
  4. Eine andere auffallende Korrespondenz: Das schon vorher, während Farinellis "hohem C", durch ein tiefes Brodeln mit einer auditiven Blende vorbereitete Bild von der Kastration setzt ganz synchron mit dem Beginn des Nachspiels und durch das aufsteigende Blut mit einem starken und vielfältigen Bewegungsimpuls ein, akzentuiert damit diese formale Position, genau wie zuvor etwa der Blick auf den Kastrations-Bottich mit Carlo, parallel zu "Lascia chi´o pianga". Eine spannende Stelle, demonstriert sie doch das Versenken Farinellis in seine Vergangenheit, erklärt die Rückblenden als vorübergehenden Ausstieg aus der Realität des Theaters, als Reaktionen und Reflexe auf Händels Enthüllung des wahren Ablaufs seiner Kastration, - und dies durch diese kleine auditive Maßnahme des untergründigen Brodelns. Erst während des Beifalls kehrt Farinelli, etwas bestürzt und betroffen, wieder zurück aus seinem Erinnerungsgetümmel, deutlich gemacht durch das langsame Aufblenden der Beifallsgeräusche.

Insgesamt läßt sich eine charakteristische Ausgestaltung der Formteile der Arie konstatieren, d.h. die Musik wird auch visuell in ihrer immanenten Logik unterstützt und entfaltet. Dabei wird starkes Gewicht gelegt auf die Artikulation des gesungenen Textes, der sowohl Bestandteil des musikalischen Geschehens ist, zugleich aber auch auf psychische Prozesse der Handlungssituation hinweist und sie emotional verstärkt.

Sehr markant etwa die Formulierung des Klagerufs über die verlorenen Freiheit mit seiner auffälligen Publikumstotale, "la libertà" erscheint zweimal in identischen Einstellungen. Die Bedeutung scheint klar: Freiheit kann ich nur erreichen, wenn ich auf Euch verzichte! Die Welt staunt mich an, das Stimm-Monster; damit radikal zu brechen, das verschafft mir Freiheit. Wohingegen die Kastration und die Legende ihrer Entstehung, die damit verbundene Abhängigkeit vom Bruder als eine eminente Beschneidung von Freiheit im privaten wie im künstlerischen Bereich gesehen werden muß. Als Kind hat er sich wehren wollen - eine Rückblende zeigt dies -, aber damals konnte er sich mit seiner Singeverweigerung nicht durchsetzen.

Sicher gibt es noch weitere filmästhetische Aspekte, etwa die Farbdramaturgie, die einer Betrachtung wert wären, ich möchte jedoch hier abbrechen.

Im Film wie im tatsächlichen Leben beendet Farinelli nun, 1737, seine öffentliche Karriere und geht an den Hof des Königs von Spanien, um dort dem depressiven König (erst Philip V., 1700-1746, dann Ferdinand VI., 1746-59), jahrelang allabendlich dieselben 4 Arien vorzusingen; nach dessen Tod, 1759, muß Farinelli Spanien verlassen und geht nach Italien zurück.