Thesen eines Mathematikers zum Projekt Kunst sieht Mathematik:
Oberflächlich betrachtet gibt es scheinbar Gemeinsamkeiten
zwischen Kunst und Mathematik, wie z.B. ihre geringe Beachtung
in der Öffentlichkeit. Sie sind allerdings wesentlich verschieden,
was innere Dynamik, zivilisatorische Rolle, Wirkung, Erscheinung,
... angeht.
Kunst ist gegenständlich oder visuell in Ihren Äußerungen.
Man kann sie dann nicht "übersehen", Mathematik
schon. Wenn überhaupt eine formale Theorie hinter einem Kunstwerk
wirkt, so ist das Kunstwerk doch üblicherweise deren Realisierung.
Bei der Mathematik ist es umgekehrt, sie ist die Theorie und nicht
deren Visualisierung oder Realisierung. U.A. deswegen kann sie
in so vielfältiger Form präsent sein. Sie ist außerdem
universell im Sinne von Joseph Needham.
Die wachsende Präsenz der Mathematik in unserer Zivilisation
kann gegenüber Nichtspezialisten nur konstatiert und exemplarisch
belegt werden. Handy-Kommunikation, Versicherungs- und Finanzwesen,
Kontrolle und Regelung waren ausgewählte Beispiele in einem
Blockseminar zum Projekt. Die darin verborgenen mathematischen
Theorien müssten Sie studieren, z.B. bei uns in Oldenburg.
Wenn die Kunst Mathematik benutzt (meist geometrische Formen,
Funktionsgraphen, Fraktale, etc. ), besagt dies nichts über
das wahre Verhältnis der beiden.
Es ist viel leichter, sein ganz persönliches Verhältnis
zur Mathematik in ein Kunstwerk umzusetzen, als das verborgene
Innere von Mathematik mit ihren zahlreichen abstrakten Theoriegebäuden.
Es ist auch leichter Grenzen der Mathematik und ihrer Anwendungen
zu thematisieren. Es ist sicher viel schwerer, zu versuchen, darüber
hinauszukommen und die Tarnkappe ein wenig zu löchern: "Kunst
sieht Mathematik" (!).
Das Projekt soll zur individuellen Annäherung ermuntern,
aber keine Herangehensweise sanktionieren.
Wiland Schmale, 4. Februar 2005
Kunst sieht Mathematik
Überlegungen eines Kunsthistorikers
Von Fjodor Dostojewski wird berichtet, er habe einmal geschrieben,
dass der zu rühmen sei, der herausbekommen habe, dass 2 mal
2 gleich 4 sei. Doch wenn man schon beim Rühmen sei, so ginge
der Text weiter, sei auch dessen gedacht, der gesagt habe, 2 mal
2 sei 5. Wie ich gelernt habe, kann nicht nur die Kunst sondern
auch die Mathematik mit Annahmen arbeiten, die dem gesunden Menschenverstand
widersprechen. Kunst so hat es Erwin Panofsky einmal formuliert
seien Objekte, denen wir mehr als nützlichkeitsbezogenen
Wert zuschreiben. Auch hierin können sich Teile der Mathematik
und Teil der Kunst einig sein allerdings gibt es auch nützlichkeitsbezogene
Bereiche in beiden Disziplinen: in der Kunst wäre dies Pferdemaler
Popp und in der Mathematik die Milchmädchenrechnung . Beider
Aufgaben kann langfristig der Computer übernehmen, bei den
unnützen Aufgaben allerdings bekommt er heftige Schwierigkeiten.
Kunst und Mathematik haben mit Vorurteilen zu kämpfen: die
Kunst, daß es hier lediglich ums Abbilden ginge, die Mathematik,
daß es vor allem ums Rechnen ginge. Nun müssen zwei
mit Vorurteilen beladenen, wenn sie sich sehen, noch lange nicht
den Vorurteilen ihres Gegenübers gegenüber immun sein.
Deswegen fragen wir vor den Bildern dieser Ausstellung: Was mag
die Mathematik von der Kunst erwarten? Freiheit vom Vorurteil?
Und was sieht die Kunst, wenn sie die Mathematik sieht? Zahlen?
oder vielleicht Gedanken? ausgefallene Wege? Problemstellungen
oder Problemlösungen? Problemstellungen und Problemlösungen?
Künstlerischen Sehen, so wird es gerne erwartet, ist ein
Sehen mit Röntgenblick. Wenn die Kunst die Mathematik sieht,
ist zu fragen, welche Fassade sie betrachtet und was sie dahinter
vermutet. Oder sieht sie nur ihr Sehen? Möglich wäre
es.
Detlef Hoffmann, 4. Februar 2005
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